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Üb immer Treu und Redlichkeit
© Peter Schönau

 

Der einzige Flug, mit dem ich es von Boston aus schaffen konnte, meinen Gesprächstermin bei General Dynamics in Warren um elf Uhr einigermassen pünktlich einzuhalten, war der 6.00 Uhr-Flug von DELTA Airlines gewesen.

Etwas widerwillig hatte ich am Abend vorher, nachdem ich mich mit einem Kopfnicken von den dunklen Porträts in Öl, die die Wände des Restaurants zierten, verabschiedet hatte, die junge Lady mit den asiatischen Gesichtszügen, die im altvornehmen und sündhaft teuren "Boston Harbor" etwas gelangweilt und allein ihren Nachtdienst an der Rezeption versah, gebeten, mich durch den telefonischen Weckdienst um 4.30 Uhr wecken zu lassen. Ich überlegte hinterher noch einmal, ob ich die Zeit für Aufstehen, Morgentoilette und Fahrt im Taxi zum Logan International Airport nicht zu knapp kalkuliert hatte. Aber so früh war noch keine Rush-hour, und auch der Callahan-Tunnel, fast ein Vierundzwanzigstundennadelöhr, sollte zu dieser Tageszeit keine Probleme bereiten. Für Boston hatte der "Weather Channel" auch für heute das augustübliche "muggy", das heisst schwüle, drückend warme Wetter angesagt, das man eher in den Tropen vermutet und nicht an der amerikanischen Ostküste. Ich hatte deswegen einen leichten Sommeranzug angezogen, auch wenn ich nicht wusste, wie das Wetter in Detroit sein würde.

Auf dem Flughaften kaufte ich die heutige Ausgabe des "Boston Globe" und überflog im Flugzeug die letzten Nachrichten über die Golf-Krise.

Es war erst wenige Tage her, dass Saddam Hussein eine aufpeitschende Rede an alle Moslems gehalten hatte, in der er zum heiligen Krieg gegen Amerikaner und Zionisten aufgerufen hatte.

Originalton Saddam Hussein: "Oh Araber, oh Moslems und Ihr Gläubigen überall auf der Welt. Dies ist euer Tag der Erhebung zur Verteidigung Mekkas, das in die Hände der Amerikaner und Zionisten gefallen ist. Lasst die Erde unter den Füssen der Aggressoren und Invasoren brennen."

Die Maschine landete pünktlich um 10.05 Uhr in Detroit; ich ging sofort zum Hertz-Schalter und erledigte die Formalitäten für meinen Leihwagen. Ich war erst einmal in Detroit gewesen, und kannte eigentlich nur das Renaissance Center. Aber ich hatte schon damals den Eindruck gewonnen, nicht viel verpasst zu haben.

Warren ist ein Vorort von Detroit, ein fast ausschliesslich schwarzer Vorort. Die Strassen erinnerten mich an die jüngste Berichterstattung über den Mord an einem Touristenehepaar, und ich betätigte die Türverriegelung. top

Die Zufahrt zum Hauptquartier der Land Division von General Dynamics markiert ein ausgemusterter Panzer, ich hatte mein Fahrziel erreicht, und es war weniger schwierig gewesen hierher zu finden als ich befürchtet hatte.

Die Amerikaner kooperierten schon seit längerem mit Thyssen Henschel und waren im Augenblick besonders an einer waffentechnischen Neuentwicklung interessiert, dem "ABC Spürfuchs", weil im bevorstehenden Konflikt mit Saddam Hussein der Einsatz von biologischen und chemischen Waffen durch den Irak befürchtet wurde, und der "ABC Spürfuchs" war sozusagen ein ABC-Erkundungsfahrzeug. Aber die Amerikaner waren generell auf einen Wüstenkrieg nicht ausreichend vorbereitet, wie auch die New York Times in einem Artikel maliziös angemerkt hatte, und so tat sich hier ein grosses Geschäftsfeld auf, das bis zu einem relativ unbedeutenden Artikel wie Gasmasken reichte.

Ich selbst war eher als Liaison zu Thyssen Henschel in Kassel auf diesem Trip, und natürlich zu meinem eigenen Vorteil. Das Projekt "ABC Spürfuchs" sollte endgültig auf den Weg gebracht werden, doch für einen Vertragsabschluss mit meinen Auftraggebern in Kassel fehlte noch das Okay der Amerikaner.

Als ich noch am gleichen Nachmittag das Flugzeug bestieg, das mich wieder zurück nach Boston bringen sollte, war ich sicher, dass die Zusage der Amerikaner nur noch eine Formalität war und in den nächsten Tagen in Deutschland eintreffen würde. In Boston angekommen, rief ich sofort meine Kontakte in der Wehrtechnik von Thyssen Henschel in Kassel an und unterrichtete sie über mein Gespräch.

Man war natürlich sehr erfreut über die Entwicklung, die die Dinge zu nehmen schienen, und hinter vorgehaltener Hand wurde mir berichtet, dass auch Saudi Arabien am Erwerb des "ABC Spürfuchs" sehr interessiert sei und dass man bereits dabei sei, die sanitären Einrichtungen auf dem Werksgelände für den Gebrauch durch strenggläubige Moslems einzurichten, um die ersten "Trainees" aus dem Land des Propheten aufnehmen zu können. top

In den nächsten Wochen trafen bei uns kistenweise Zeichnungen des "ABC Spürfuchs" ein, die für General Dynamics umgearbeitet werden mussten.

Ich war erleichtert, dass wir mit unserer Arbeit beginnen konnten, und alles lief glatt und völlig problemlos, bis es zu einigen unerklärlichen Zwischenfällen kam, die mich veranlassten, alles Personal anzuweisen, sämtliche Unterlagen in Verbindung mit dem Projekt, sowohl als Ausdruck als auch auf Diskette, am Ende jedes Arbeitstages in unserem von der Hardthöhe abgesegneten Panzerschrank zu deponieren, den wir bisher nur sehr selten benutzt hatten, Papierabfälle in einem Shredder zu vernichten und im übrigen darauf zu achten, dass der Computerzugriff durch ständig wechselnde Passwörter gesichert wurde.

Später haben alle Beteiligten versucht, diese oben erwähnten Zwischenfälle in ihrer Bedeutung herunterzuspielen. Sie wurden als bedauerlich, doch als reine Zufallsprodukte eingestuft. Eine Einschätzung, die ich aufgrund meiner späteren Informationen heute nicht mehr teilen kann. Doch damals habe auch ich daran festgehalten, weil es galt, einen Skandal zu verhindern. Mittlerweile liegt dies alles einige Jahre zurück, neue Ereignisse haben die alten verdrängt. Die Welt ist ein Dorf, und die Nachrichten, die sie jeden Tag "erschüttern", sind so kurzlebig wie die berühmte Eintagsfliege.

Trotzdem war es für mich eine Frage der persönlichen Befriedigung, die Geschichte nicht dort enden zu lassen. Ich habe die Fakten hin und her gedreht und meine Schlussfolgerungen gezogen, die natürlich keiner verpflichtet ist zu teilen.

Der Golf-Krieg war entbrannt, und die Produkte unserer Arbeit wurden von uns in wöchentlichen Sendungen einem Kurierdienst für den Versand nach Kassel übergeben. Es lief alles normal, nie gab es einen Anlass, an der Zuverlässigkeit des Kurierdienstes zu zweifeln oder zu vermuten, dass unsere Kreise durch irgendwelche finstere Absichten einer fremden Macht gestört werden sollten.

Bis es eines Tages zu einer Panne kam, von der ich heute nicht ausschliessen kann, dass sie vielleicht nur die einzige dieser Art ist, die uns bekannt wurde, und dass sie nur ein gut getarntes System verbarg.

Ich erhielt eines Morgens einen aufgeregten Anruf aus Kassel. Unsere wöchentliche Dokumentensendung war nicht beim Empfänger gelandet, sondern bei einem Hotel in Bonn. Es wurde nie geklärt, wie es zu dieser "Fehlleitung", wie der Sprecher des Kurierdienstes bedauernd formulierte, kam. Meine späteren Recherchen ergaben jedoch ein enges Verhältnis zwischen einem Mädchen, das damals im Empfang des Hotels arbeitete, und einem Angehörigen der sowjetischen Botschaft. Selbstverständlich ist das nur "Hörensagen" und möglicherweise keine zuverlässige Information gewesen, da der MAD sie anscheinend nicht erhärten konnte. Ausserdem gab es ein "missing link", jemanden im Kurierdienst, der die Sendung absichtlich umdirigiert hatte. top

Der zweite Zwischenfall ereignete sich nur wenige Wochen später. Unsere wöchentliche Kuriersendung war überfällig. Eine Rückfrage unserer internen Abnehmer bei Thyssen Henschel in Kassel ergab, dass unsere letzte Sendung, ein mehrere Kilogramm wiegendes Paket mit sicherheitsempfindlichem Inhalt, wie es in der Fachsprache so schön heisst, sie offensichtlich nicht erreicht hatte. Meine Nachforschungen ergaben, dass den Kurierdienst in diesem Fall offensichtlich keine Schuld traf, er konnte eine Empfangsbestätigung vorweisen, wenngleich die Unterschrift unleserlich war. Die mit Nachdruck im Hause unseres Auftraggebers durchgeführten Nachforschungen blieben ohne Ergebnis, das Paket mit dem wertvollen Inhalt wurde nie gefunden.

Für mich gab es zwei Möglichkeiten der Erklärung:

1. Im grossen Lager unseres Abnehmers war unsere Sendung in einem "schwarzen Loch" verschwunden.

2. Der Fahrer des Kurierdienstes war nicht sauber und hatte die Empfangsbestätigung gefälscht, um unsere Sendung an ihren eigentlichen Empfänger weiterzuleiten.

Lösung Nr. 1 schied ich aus. Eine persönliche Kontrolle überzeugte mich davon, dass das Wareneingangslager von Thyssen Henschel sehr korrekt geführt wurde, und ich verliess es mit dem Eindruck, dass hier nicht einmal die berühmte Stecknadel im Heuhaufen verlorengehen würde.

Für Lösung Nr. 2 entschied ich mich definitiv, als ich durch einen Zufall erfuhr, dass dem seinerzeitigen Zusteller des Kurierdienstes kurze Zeit später von seinem Arbeitgeber fristlos gekündigt wurde.

Warum ich diese Geschichte erst jetzt wieder ausgegraben habe? Ein gutes Gedächtnis ist schliesslich nicht immer ein sanftes Ruhekissen.

Nun, vor einigen Tagen erhielt ich ein seltsames Fax aus Twer.

Twer ist eine Industriestadt, ungefähr 150 km nordwestlich von Moskau gelegen. Und mir ist nicht klar, wie der Absender an meine Telefaxnummer gekommen ist.

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