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Janus «Americanus» oder die heuchlerischen Nachfahren Calvins
© Peter Schönau

Thomas Mann über Amerika in «Die Betrogene»:
«(Er) fand es mit seiner Dollarjagd und Kirchgängerei, seiner Erfolgsbigotterie und kolossalen Durchschnittlichkeit, vor allem aber mit seinem Mangel an historischer Atmosphäre eigentlich greulich.»

Mein Flieger landet verspätet in Bostons Logan International Airport, und ich verpasse deswegen den letzten Commuter Train, der Boston North Station Richtung Rockport verlässt. Ich muss deshalb ein Taxi nehmen. Als ich dem Fahrer (ein gebürtiger Israeli) mein Ziel nenne, blättert er in seinem Taschenatlas, um das richtige Rockport zu finden. Als ich endlich in Rockport eintreffe, ist es schon ziemlich spät, die Zeiger meiner Uhr rücken auf zehn Uhr vor. Wir suchen das«Eagle House Motel», aber keiner von uns weiss genau, wo sich die Cleaves Street befindet. Da taucht plötzlich der Cruiser des örtlichen Sheriffs neben uns auf, der Taxifahrer lässt das Seitenfenster herunter und erklärt unser Problem. Der Sheriff winkt uns, seinem Wagen zu folgen. Nach wenigen Minuten habe ich mein Ziel erreicht. Das «Eagle House Motel» ist, wie ich am nächsten Morgen feststelle, günstig gelegen, in «walking distance» sowohl zum Bahnhof als auch zum kleinen Zentrum am Hafen. Ausserdem ist es nicht teuer, immerhin haben wir Hochsaison, und die «efficiency»-Apartments im «Eagle House Motel» kosten ca. 70 Dollar, nur das sogenannte «studio», ein kleines Zimmer, sehr viel kleiner als ein «efficiency» Apartment, aber vornehm europäisch als «studio» bezeichnet, kostet weniger, nämlich 42 Dollar (alles ohne Tax versteht sich, die von Bundesstaat zu Bundesstaat verschieden ist).

Am nächsten Morgen mache ich einen ersten Rundgang durch Rockport. An der Mainstreet ist ein Coffee Shop, in dem ich Station mache und neugierig angesehen werde. Die Touristen kommen erst später am Tag. Neben dem Gebäude der Granite Savings Bank, das heute eine Buchhandlung beherbergt, und das an die frühere Haupteinnahmequelle der Bewohner von Rockport - neben dem Hummer- und Muschelfang -, den Granitabbau in den vielen Steinbrüchen der engeren und weiteren Umgebung erinnert, führt eine Stiege zum Strand hinunter.

Das Wasser der Sandy Bay ist glatt wie ein Spiegel, und die Luft riecht nach Tang und Salz. Es ist sehr ruhig, die Sonnenstrahlen überfluten den Strand und tauchen die Granitblöcke der Hafenmole in einen goldenen Schimmer. Die ersten Geschäfte machen auf, und davon gibt es in Rockport mehr als genug, zumindest, wenn man den Bedarf seiner Bewohner zugrundelegt, aber da sind ja noch die Touristen, und ihretwegen florieren die vielen Galerien, Andenken- und Kunstgewerbeläden, Restaurants und Fisch- und Hummerläden. Sie finden sich besonders in der Main Street, am Dock Square, in der Mt. Pleasant Street, und enden erst am Bearskin Neck, wohl der bekannteste Punkt von Rockport. Dann kommt der Atlantik, der sich an dem Wellenbrecher aus Granit bricht, der zum Schutz der Boote angelegt wurde, die im Inner Harbor vertäut sind.

Seinen Namen hat dieser touristische Anziehungspunkt nach einer Begebenheit, die sich vor ungefähr 300 Jahren zugetragen hat. Ein Bär traute sich bis hierher und wurde angeblich von James Babson mit einem Messer getötet, das heute noch von der Sandy Bay Historical Society aufbewahrt wird.

Rockport macht zweifellos einen beruhigenden Eindruck. Ein Ort, der mit seinen gepflegten Gärten und Colonial Houses zum Verweilen einlädt, wenngleich ich später höre, dass von Oktober bis April die meisten Geschäfte und Restaurants schliessen, weil in diesen Monaten der Touristenstrom versiegt. Vielleicht ist es dann der Ruhe zu viel, überlege ich laut. Allerdings ist Boston nicht weit. Ich teste gleich heute vormittag den Pendlerzug, der regelmässig nach Boston North Station verkehrt. Er braucht für eine Fahrt eine gute Stunde, und ein Roundtrip kostet 8 Dollar. Die Züge der AMTRAK sind nie voll, und man sitzt bequem auf dunklen Kunstlederpolstern.

Rockport - Die trockenste Stadt Neuenglandstop

Abends nehme ich zum erstenmal bei «Brackett's» mein Dinner ein. Natürlich entscheide ich mich für Fisch, an der Küste Neuenglands immer eine gute Wahl. Vergeblich suche ich allerdings nach einer Weinkarte, selbst Bier ist in der Getränkekarte nicht vorhanden, ausser einem alkoholfreien Bier. Notgedrungen entscheide ich mich dafür, höre dann aber von der Bedienung, dass auch dieses Bier gerade aus ist.

Indigniert knurrend ergebe ich mich in mein Schicksal. Mein Blick schweift zu den anderen Tischen, aber auch dort trinkt niemand etwas Alkoholisches, wie ich zu erkennen glaube. Rauchverbot in amerikanischen Restaurants, von den Raucherzonen abgesehen, ist ja nichts Neues, aber Alkoholverbot... Diese Regelung lässt mir keine Ruhe, und nachdem ich mein Essen beendet habe, mache ich noch einen kleinen Abendspaziergang und betrete ein anderes Restaurant, um mich zu vergewissern, ob das Alkoholausschankverbot überall gilt. Das Mädchen hinter dem Schild «please wait to be seated» lächelt mich strahlend an. Ob ich nicht wüsste, dass Rockport ein «dry town» sei. Durch Beschluss der Stadtvertretung sei der Verkauf von Alkohol in Rockport verboten, und in allen öffentlichen Etablissements dürfe kein Alkohol serviert werden.

Als ich sie entsetzt ansehe, fügt sie beschwichtigend hinzu, dass die Gäste jedoch normalerweise ihre alkoholischen Getränke selbst mitbringen könnten. Dafür müsse man dann - je nach Restaurant - entweder gar keinen Service bezahlen oder eine geringe Gebühr, zum Beispiel für den Eiskübel, um den Wein zu kühlen.
Am nächsten Tag verlasse ich auf meiner Rückkehr von Boston den Zug deswegen schon in Gloucester und lasse mich im Taxi zu einem Liquor Store bringen, wo ich mich für den Rest meines Aufenthaltes mit Wein eindecke. Abends schleiche ich - etwas verschämt - mit meiner Flasche Pinot Grigio in braunes Packpapier gewickelt zu Brackett's, wo die Bedienung mir die Flasche abnimmt, um sie zu entkorken und kalt zu stellen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Das von mir praktizierte Verfahren scheint also gang und gäbe zu sein.

Am nächsten Tag kaufe ich mir in der Buchhandlung an der Main Street ein kleines Büchlein, um in Erfahrung zu bringen, wie es zu dieser Sitte gekommen ist. Ich lese, dass das Alkoholverbot auf das Jahr 1856 zurückgeht und wir es Hannah Jumper zu verdanken haben, einer streitbaren 76 Jahre alten Dame, die sich an die Spitze eines Zuges von 60 Rockporter Frauen stellte, die nicht mehr länger mit ansehen wollten, wie ihre Männer mehr Zeit in der Kneipe als zu Hause verbrachten. Mit Äxten bewaffnet machten sie sich von Hannahs Haus auf, um dem Alkohol in Rockport den Garaus zu machen. Auf ihrem Weg zertrümmerten sie alle Rum-, Brandy- und Bierfässer, derer sie habhaft werden konnten. In die Stadtgeschichte ist diese Begebenheit unter der Überschrift «Hannah und die Axtgang» eingegangen.

Die folgenden Abende geniesse ich den neidischen Blick der anderen Gäste, wenn sie (natürlich unwissende «bloody tourists») zu mir hinüberschauen und statt des gewünschten Bieres oder Weins mit Coke oder Wasser vorliebnehmen müssen. Ausserdem habe ich die Rechnung aufgestellt, dass die Abende bei Brackett's - an meinem jetzt schon immer für mich reservierten Platz am Fenster mit Blick auf die Sandy Bay und die blinkenden Leuchtfeuer - auf diese Art und Weise für mich erheblich billiger werden. Im Liquor Store kostet mich die Flasche Wein - je nachdem - 7-8 Dollar, im Restaurant würde sie mich mindestens das Doppelte kosten.

Mein letzter Morgen in Rockport ist schneller angebrochen als mir lieb ist. Ich gehe zum letztenmal zum Strand hinunter. Es ist noch früh, die ersten Sonnenstrahlen bestreichen den Sand und wärmen das Gefieder von zwei Möwen, die sich krächzend die Geschichte der Nacht erzählen. Bis die eine beginnt, die vor ihr liegende Miesmuschel zu öffnen.

Übrigens, sollten Sie vorhaben, einen Abstecher nach Rockport zu machen, vermeiden Sie die letzte Woche im September, weil dann in dieser Gegend der «Ryder's Cup», ein internationales Golfturnier, stattfindet und Zimmer schwer oder gar nicht oder jedenfalls nur zu überhöhten Preisen zu bekommen sind.

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