Assoziationen eines schläfrigen Sommermorgens
VON PETER SCHÖNAU
© Peter Schönau
Auf dem Rasen vor dem Haus vögelt der Hahn die Hennen, und auch sonst scheint die Welt in Ordnung zu sein. An der Wäscheleine über diesem bukolischen Bild hängen einige Bettücher. Nur sie stören mich an diesem Sommermorgen, weil sie mich immer an Leichentücher erinnern.
Um vielleicht durch meine
folgenden Äusserungen nicht missverstanden zu werden, möchte ich Ihnen
meine folgende Selbsteinschätzung vorwegschicken: Ich bin für die
Schüchternen und die Selbstbewussten, für die Ängstlichen und
die Mutigen, für die Vorsichtigen und die Waghalsigen, für die Stillen
und die Lauten, für die Gewinner und die Verlierer, für die Gehorsamen
und die Aufsässigen – denn all dies ist menschlich.
Ausserdem lebe ich in Italien. Das relativiert vieles. Wenn wir Italiener eine
Regel erfinden, denken wir gleich daran, wie wir sie umgehen können, und
wenn zwei Italiener zusammen sind, gibt es mindestens drei Meinungen.
Wenngleich solche Verallgemeinerungen sicher genauso steril sind wie die axiomatische
Behauptung:
Kahlköpfige Frauen sehen alle aus wie Eunuchen.
Männer mit schwarzem Haar, Brille und bläulich schimmerndem Bartflaum
sehen sich alle ähnlich.
Geld landet immer nur in leeren Opferstöcken.
Ich stelle die folgenden
Betrachtungen unter das Motto:
Erkenntnis ist die Fähigkeit, Zweidimensionales auch dreidimensional zu
sehen.
Und ich schreibe diese Zeilen wirklich nicht wie Martin Walser, jemand, der
schreibt, um Zeilen zu füllen.
Wobei es manchmal tatsächlich besser wäre zu sagen: Diese Bücher
habe nicht ich geschrieben, sondern mein Pseudonym (von diesem Ratschlag will
ich mich selbst nicht ausnehmen)
Schliesslich ist Schreiben, Gedanken produzieren oft wie das Ausdrücken
einer Tube Zahnpasta – man drückt und drückt, bis man enttäuscht
feststellt, es kommt nichts mehr.
Im übrigen schreibt man die wichtigen Dinge für sich selbst, die unwichtigen
für die anderen - die Leser.
Angeblich muss man für alles bezahlen, vielleicht gilt das auch für
den geistigen Abfall, den man produziert. Die Frage ist nur, in welcher Währung.
Manchmal bin ich trotzdem (in meinen seltenen euphorischen Phasen) der Meinung,
Kultur zu verbreiten. Ein Rundgang durch das Stadtzentrum vor einigen Tagen
hat mich zwar nicht von dieser Vorstellung geheilt, mir aber trotzdem ihren
sehr bescheidenen Wert demonstriert. Der Buchladen, zu dem ich meine Schritte
gelenkt hatte, war einem Ausserhauspizzaservice gewichen. Was beweist (wenn
es noch eines Beweises bedurft hätte), dass die Verbreitung von Kultur
in den wenigsten Fällen ein Geschäft ist und ihrer Verbreitung schon
deswegen enge Grenzen gesetzt sind.
In solchen Augenblicken verfalle ich in finstere Depressionen und sage mir,
leben lohnt sich eigentlich nur, weil es ein Ende hat, welches Ziel hätten
wir sonst?
Aber auch davon abgesehen
scheint es mit unserer Gesellschaft nicht zum besten zu stehen. Bisher hatte
ich einfältiger Tor tatsächlich an die Maxime «Das Gesetz ist
für alle gleich» geglaubt. Das Gespräch mit der Leiterin der
hiesigen Bussgeldstelle, das ich vor einigen Tagen führte, hat mich an
dieser meiner bisher so festgegründeten Überzeugung irre werden lassen.
Das Gespräch hatte in ihrem Arbeitszimmer stattgefunden. Mit Ordnern vollgestopfte
Regalreihen füllten alle Wände.
Sie hatte mit der rechten Hand auf die Regalreihe an der gegenüberliegenden
Wand gewiesen: «Hier finden Sie alle Bussgeldverfahren über 50.000
DM. Von denen zahlt in der Regel keiner. Das sind Firmen, die dreissig, vierzig
Mitarbeiter oder mehr beschäftigen. Sie drohen sofort mit Entlassungen.
Auf der anderen Seite,» und sie hatte auf die Regalwand links von mir
gewiesen, «finden Sie die kleineren Bussgeldsünder, wie zum Beispiel
Sie. Sollten Sie sich entscheiden, nicht zu zahlen, kann es passieren, dass
Sie am Ende die dreifache Summe zahlen müssen, oder es kommt der Gerichtsvollzieher.»
«Und das nennt man dann Gerechtigkeit,» hatte ich zu seufzen gewagt.
Sie hatte mir zum Abschluss ein mild-sarkastisch-verständnisvolles Lächeln
geschenkt.
Ich war bisher auch der
Meinung gewesen, dass wir in einem effizienten, entbürokratisierten Gemeinwesen
leben, wo der Amtsschimmel weniger wiehert als früher. Leider habe ich
meine Meinung auch in dieser Hinsicht revidieren müssen, nachdem ich die
folgende Geschichte hörte, die übrigens auf einer wahren Begebenheit
beruht.
Unser Bürgermeister fand in seinem Briefkasten die Benachrichtigung über
die erfolglose Zustellung eines Einschreibens vor.
Mit dem Benachrichtigungszettel in der Hand begab er sich zu seinem Postamt.
Neugierig fragte er den Schalterbeamten: «Wer ist eigentlich der Absender
des Einschreibens?»
Der Beamte sah ihn lächelnd an und sagte: «Sie haben Post vom Bürgermeister.»
Von Recht zu Richtigkeit
ist es kein weiter Weg.
Letztens habe ich Kafka, «Der Prozess», gelesen. Erstaunt stellte
ich fest, dass sogar Kafka Sätze mit «trotzdem...der fremde Mann»
usw. beginnen lässt. Mir fiel ein, dass uns schon in der Schule eingetrichtert
wurde, dass dies ein falscher Gebrauch der Konjunktion sei und dass es korrekt
wäre, solche Sätze mit «obwohl» oder «obgleich»
beginnen zu lassen. Seitdem denke ich ununterbrochen über den Lohn der
Korrektheit nach. Schliesslich ist aus Kafka ein berühmter Schriftsteller
geworden und aus mir nicht.
Nun gut, man findet immer
ein Haar in der Suppe, werden Sie sagen. Das dachte ich auch und sagte mir,
zumindest seien wir heute (als Gesellschaft) weniger chauvinistisch und militaristisch.
Wenn man jedenfalls an Zeiten zurückdenkt, wo nicht viel gefehlt hätte
und auch die Kühe Hakenkreuze getragen hätten.
Doch kürzlich las ich einen Artikel über die steigende Verbreitung
der Ordensverleihung in diesem Land, und ich stellte an Hand einer alten Enzyklopädie
fest, dass es im Wilhelminischen Deutschland 114 Orden, 70 verschiedene Flaggen
und Stander sowie 96 verschiedene Uniformen gab (soviel zur Definition einer
militaristischen Gesellschaft).