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Kuba – Die Zuckerinsel, die keine Zuckerinsel mehr ist


VON PETER SCHÖNAU
© Peter Schönau

Der alte Mann in der Bar sitzt zwei Hocker von mir entfernt und sieht mich aufmerksam von der Seite an. Ab und zu werfen seine flinken Hände Striche auf das Papier. Als seine Zeichnung fertig ist, schiebt er sie zu mir hinüber. Ich betrachte sie prüfend und stelle fest, dass ich schon bessere Abbildungen von mir gesehen habe. Das sage ich natürlich nicht, sondern komme mit ihm ins Gespräch. Er ist 62 Jahre alt, bezieht keine Pension und muss davon leben, dass die Touristen ihm gegen einige Dollar seine Zeichnungen abkaufen. Ausserdem darf er dieses "Gewerbe" nicht öffentlich betreiben, weil er dazu keine Erlaubnis hat. Von seiner Frau lebt er getrennt. Auf die Regierung ist er nicht gut zu sprechen. Allerdings soll es das auch in anderen Ländern geben, die eher dem demokratischen Modell als Kuba entsprechen. Doch ist er nicht der einzige, und andere haben für ihre Unzufriedenheit mit dem Regime handfestere Gründe. Die beiden Kellner in der Bar des Restaurants "La Mina" zum Beispiel. Jose unterrichtete früher Sport, und sein Kollege Alejandro arbeitete als Arzt an einem Krankenhaus. Beide warfen in ihrem anspruchvollen Beruf das Handtuch, weil der Verdiernst zu gering war. Ein Polizist, wie sie Havanna praktisch an jeder Kreuzung bevölkern, verdient erheblich mehr. Dafür, dass er den ganzen Tag gelangweilt auf der Stelle tritt und nichts tut.

Allmählich nimmt die Regierung Abschied von ihren Träumen. Bestimmte Sektoren der Wirtschaft öffnen sich immer mehr der Privatinitiative. Es sind jedoch zögerliche Massnahmen, halbherzig ergriffen und nur dem Zwang, aber nicht der besseren Einsicht folgend. Das System führt zu solchen Anachronismen, dass ich mein Bier im Restaurant mit Dollar bezahlen muss, aber das Schinkenbrötchen, das ich gerade verzehrt habe, in normalen (im Gegensatz zu den konvertiblen, die dem Dollar gleichgestellt sind) Pesos bezahlen darf. Der Fortschritt besteht darin, dass mir noch vor 5-6 Jahren als Tourist der Besitz von normalen Pesos nicht erlaubt war. Das kubanische Fernsehen nimmt grosszügig jede Möglichkeit wahr, die Krise lateinamerikanischer Staaten wie Argentinien und Uruguay als Krise des Kapitalismus zu geisseln, die der Zuckerinsel durch die Partei und den Líder máximo erspart bleiben wird.top

Im übrigen verstopft sich die Nomenklatura die Ohren mit Wachs vor dem Gesang der kapitalistischen Sirenen und gibt vor, immer noch an den dritten Weg Kubas zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu glauben. Bedauerlich nur, dass es bisher kein funktionierendes Beispiel dafür gibt. Die menschliche Natur ist nun einmal so wie sie ist (Agatha Christie). Kuba wird weiterhin sein Recht auf ein separates gesellschaftliches und wirtschaftliches Modell vertreten, jedenfalls solange Fidel Castro lebt, aber eigentlich hat der Schwanengesang schon begonnen.
Wir auf der anderen Seite des Zauns sollten dem nicht mit ungeteilter Schadenfreude zusehen. Kuba wird wieder stärker in die Einflusssphäre der USA geraten und sein wirtschaftlicher Satellit werden. Der American Way of Life wird wieder für die Insel bestimmend werden. Tugenden wie Solidarität und Spiritualität werden dabei auf der Strecke bleiben. Es wird wieder Business as Usual herrschen.

Im "Potin" gegessen. Das Wort ist Französisch und heisst übersetzt so viel wie Klatsch, Weibergeschwätz, weswegen es die Habaneros umtauften in "chisme". Vor der Revolution tauschten hier die Damen der guten Gesellschaft bei Kaffe, Torte und Klavierbegleitung den neuesten Klatsch aus. Bevor sie gelangweilt in ihre Häuser im Kolonialstil mit den gepflegten Gärten zurückkehrten. Seitdem sind die Häuser verfallen und die Gärten verwildert. Und die gute Gesellschaft gibt es nicht mehr. Aber auch die Revolution hat an Reiz verloren. Sie ist in die Jahre gekommen.

Wenn etwas die Globalisierung präsentiert (und meine Zweifel an ihr), dann ist es die Bar des Cohiba, das Fünf-Sterne-Hotel Havannas, das vor wenigen Jahren mit spanischem Kapital errichtet wurde. Schmelztiegel aller Rassen und eine Zusammenballung jenes Teils der Menschheit, der auf Kosten ihres anderen Teils lebt - wobei dieser ersteren mengenmässig in den Schatten stellt. Ohne bei dieser Beurteilung den Begriff der Qualität einführen zu wollen, weil er nicht scharf genug definierbar ist. Aber wahrscheinlich würde ein Urteil dann noch vernichtender ausfallen.
Vielleicht hat Aldous Huxley an dieses Ambiente gedacht, als er "Mr. Savage" in seine "Schöne neue Welt" katapultierte.
Hier ist nichts solide, weder das Geld, mit dem bezahlt wird (weil sein Besitzer beim nächsten Börsenschluss möglicherweise "vaporisiert" wird, um George Orwell zu zitieren), noch die Busen der Frauen, die über den Bartresen hängen. Und auch die zwei Frauen in Begleitung eines pomadisierten Latino am Nebentisch in ihren weissen Gewändern, die an englische Ladies auf einem Wüstenausritt erinnern, scheinen nicht aus der Welt zu kommen, die dort beginnt, wo die automatischen Schiebetüren die klimatisierte Welt hier drinnen gegen die tropischen Temperaturen draussen abgrenzen.
Vor diesen Türen macht sogar die Revolution halt. Sie würde die Gäste verschrecken. Wie die Jakobiner das alte Europa in Angst versetzten und die heilige Allianz auf den Plan riefen. Doch es waren die Mächte der heiligen Allianz, die den Kampf gewannen, und es war die Revolution, die auf der Strecke blieb.top

Kunst und Kultur haben - trotz aller Indoktrinierung und Abwiegelung - die offizielle Kulturpolitik schon seit langem überrundet. In der jungen kubanischen Literatur herrscht ein erfrischender natürlicher Ton, der keine Probleme der Inselrealität ausklammert, zum Beispiel die Verfolgung von Homosexuellen. Und die muffige Prüderie aller sozialistischen Gesellschaften findet keinen Niederschlag im Inselalltag.

Am Abend im "El Trianon" an der Línea eine Vorstellung von "La Celestina" besucht. Auf den Eintrittskarten, deren Papierqualität frappierend an alte DDR-Zeiten erinnert, prangt das Kulturministerium als Erlaubnisbehörde. Die Eintrittspreise sind für unsere Verhältnisse lächerlich niedrig (5 Pesos, was ungefähr € 0,20 entspricht). Das Theater ist gut gefüllt. "La Celestina" ist eine Geschichte in der Tradition der spanischen Schelmenromane. Es gibt viel nacktes Fleisch zu sehen und die geschlechtliche Vereinigung in allen Variationen: Vom Analverkehr über Masturbation bis zum Blow Job - zwischen Männern und Frauen, aber auch nur zwischen Männern, die mit eindeutigen Bewegungen über den Bühnenboden rollen. Das Publikum amüsiert sich und spendet nach dem Ende jedes Aktes viel Beifall.

Der Fortschritt ist langsam und eher der Abkehr von sozialistischen Grundsätzen zu verdanken als ihrer sklavischen Befolgung. Am deutlichsten wird er im Strassenbild. Die alten "Guaguas", Busse, die aus den Ländern des ehemaligen Warschauer Paketes importiert worden waren und aussehen wie eine Kreuzung aus Lindwurm und Panzerkreuzer, verschwinden allmählich und haben modernen Bussen Platz gemacht.

Und am Malecón, der Prachtmeile von Havanna am Ozean, werden die salzzerfressenen Fassaden vieler Gebäude restauriert, um sie - hoffentlich - eines Tages wieder in ihrer alten Pracht erstrahlen zu lassen.
In Habana Vieja investiert das Regime besonders weiterhin in die touristische Infrastruktur, denn der Tourismus ist mehr denn je eine der (wenigen) Säulen der kubanischen Wirtschaft und sicherlich ihr grösster Profitbringer.top

Das "Haus der Freundschaft" in Vedado gehörte vor der Revolution dem "zar del azúcar", dem Zuckerkönig. Schon seit einiger Zeit hat der Tourismus den Zucker als Devisenbringer Nummer eins verdrängt. Und Kuba als die "Zuckerinsel" zu bezeichnen ist heute genauso ein Euphemismus wie das Ruhrgebiet als die grösste Zeche Europas. Das "Haus der Freundschaft" beherbergt unter anderem eine Bar und die Filiale eines staatlichen Touristikunternehmens. Die Bar ist Teil eines grossen Kuppelraums. Mit seinen schwarzen schmiedeeisernen Verzierungen, die die Wände bis zur Decke bedecken, sieht er aus wie eine riesige Tiffanylampe.

Vor dem "período difícil" gaben hier die Russen den Ton an. Heute sind sie nur noch Vergangenheit. Viel ist von ihnen nicht übrig geblieben, ausser zum Beispiel dem Mokovitsch, in dem der junge Barman jeden Tag hierher zur Arbeit fährt, und der schon 22 Jahre alt ist. Das ist allerdings für den kubanischen Fahrzeugpark bei 40-50 Jahre alten Chevies und Buicks nur ein gutes Durchschnittsalter.

Auch beinahe 13 Jahre danach besteht kein Anlass, den Fall der Berliner Mauer zu bedauern, der das Ende des kommunistischen Systems einläutete. Den Kubanern dagegen wäre zu wünschen, dass sie sich in Richtung des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" entwickeln und einen Weg finden, der das Land einerseits dem wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt und der Pluralität der Meinungen öffnet und es andererseits vor den negativen Auswirkungen eines ungebremsten Kapitalismus bewahrt.

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