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Bankopoly

 

VON PETER SCHÖNAU
© Peter Schönau

(Diese Geschichte ist ein Auszug aus einem von mir vor 14 Jahren, d.h. im Jahre 1996, geschriebenen [und nie veröffentlichten] Roman)

Ich habe den tatsächlichen Ereignissen zwar weit vorausgegriffen, aber zum Teil sind sie schon eingetroffen, und ich glaube, dass auch der Rest meiner Prognosen mehr ist als nur die Ausgeburt einer blühenden Fantasie.

An der Wand hinter dem beeindruckenden sanftbraunen Nussbaumschreibtisch von William C. Shapiro in der Park Avenue Nr. 270, dem Hauptquartier der Chemical Banking Corporation, hing, eingerahmt in einem fein ziselierten Silberrahmen, ein Zitat aus dem Buch "The Great Reckoning" von James Dale Davidson und Lord William Rees-Mogg, in verschnörkelter roter Schrift auf schwarzem Papier: "Schulden können nicht unendlich schneller steigen als Einkommen"
Die Chemical Bank hatte ihre Lektion aus der Schuldenkrise Brasiliens und Argentiniens gelernt, die Verluste aus diesen Engagements mittlerweile abgeschrieben und die Krise des mexikanischen Peso besser gemeistert als einige Wettbewerber, wenn dafür auch im Sinne der Risikovorsorge 70 Millionen Dollar als Verlustvortrag vor Steuern in die diesjährige Bilanz eingestellt werden würden. Allerdings, es hätte schlimmer kommen können. Aber die Bank hatte durch den Druck ihrer Lobbyisten im Kongress mit zu der US-Stützungsaktion für den Peso beigetragen, durch die der Fall des Peso ins Bodenlose aufgefangen wurde. Danach war die Bank keine neuen Peso-Engagements mehr eingegangen und hatte sich bemüht, aus laufenden Engagements auszusteigen. Zu Recht, wie Shapiro beim Blick in die heute Ausgabe des “Wall Street Journal” mit gewisser Selbstzufriedenheit feststellte. Der Peso war schon wieder auf einen Kurs von 8.80 zu einem US-Dollar abgesackt, und nur massive Dollar-Stützungsverkäufe der mexikanischen Zentralbank, Insider murmelten etwas von Zweihundert Millionen Dollar, hatten die Katastrophe verhindert.

Doch inzwischen verdunkelten neue Wolken den Ergebnishorizont der Bank. Der Börsenboom der letzten zwei Jahre hatte sich durch eine Verschuldung zu hohen Zinsen finanziert. Jetzt schwappte die Welle zurück. Viele Besitzer grosser Wertpapierpakete waren gezwungen zu verkaufen und trieben damit die Preise nach unten. Die Preise für Häuser und Grundstücke waren ebenfalls seit einigen Monaten in einer immer ausgeprägteren Abwärtsbewegung begriffen. Shapiro warf einen Blick auf die neueste Ausgabe des Blattes mit den Banken und Sparkassen in finanzieller Schieflage. Die Auswahl der Banken, hinter denen ein Sternchen stand, was bedeutete, dass ihre Bilanzsumme eine Milliarde Dollar überstieg, hatte sich seit der letzten Ausgabe erheblich vermehrt.

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Vertrauliche Informationen besagten, dass einige von ihnen dieses Jahr nicht überleben würden. Doch der Mechanismus, der es in der Vergangenheit erlaubt hatte, solche Krisen des Systems der Banken und Sparkassen zu überwinden, würde in Zukunft möglicherweise nicht mehr funktionieren. Der amerikanische Staat war derzeit mit etwa sechzehn Billionen Dollar verschuldet. Der Garantiefonds für die Sozialisierung derartiger Verluste war leer. Auch das japanische Bankensystem zeigte seit einiger Zeit nur noch mühsam verdeckte Risse. Erst gestern hatte er einen vertraulichen Bericht aus Tokyo erhalten, aus dem hervorging, dass eine Geschäftsbank in Osaka kurz vor dem Konkurs stand. Und der Nikkei Dow-Index war auf 6.000 gefallen. Der Crash an Wall Street war vorprogrammiert. William C. Shapiro war seit zwei Jahren der Chief Credit Risk Policy Officer der Chemical Bank, und seine Stirn hatte sich in sorgenvolle Falten gelegt. In der grossen Depression war die Geldmenge in den dreissiger Jahren um 30% implodiert. Auch das Investitionsprogramm von Präsident Hoover in der Grössenordnung von achtzig Milliarden Dollar, verteilt auf die ersten zwei Jahre der Depression, hatte das nicht verhindern können. Trotzdem glaubten die Japaner immer noch, eine solche Entwicklung dadurch vermeiden zu können, dass sie ein Infrastrukturinvestitionsprogramm in ungefähr der gleichen Höhe auflegten. Er hatte seine Zweifel. Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass die Welt sich bereits seit geraumer Zeit in einer deflationären Depression, wie man sie zuletzt in den dreissiger Jahren erlebt hatte, befand. Shapiro war sicher, dass die Chemical Bank auch diese Depression überstehen würde.

Doch die Aktionäre würden für das Unvermeidliche einen Sündenbock suchen. Und möglicherweise würde er zu den Figuren auf dem Schachbrett gehören, die im Interesse des Kapitals geopfert werden mussten. Er rieb sich mit der rechten Hand nachdenklich über das glatt rasierte Kinn. Für diesen Fall musste er rechtzeitig Vorsorge treffen. Einen Teil seiner Mittel hatte er in US-Schatzbriefen, DM- und Schweizer Franken-Anleihen angelegt. Für den Rest hatte er vom Department of Housing and Urban Development zu Spottpreisen zwei bebaute Grundstücke aus der riesigen Konkursmasse von Hauseigentümern, die ihre Hypotheken nicht mehr bezahlen konnten, erworben. Zufrieden lehnte er sich in seinen schwarzen Ledersessel zurück. Mochte die Bundesregierung auch ihre Zuflucht in einer Hyperinflation oder einer galoppierenden Deflation suchen, für sich und seine Familie sah die Zukunft trotzdem weiterhin rosig aus. William C. Shapiro war versucht, sich selbst belobigend kräftig auf die Schultern klopfen. Der letzte Bericht der Federal Reserve Bank teilte mit, dass die Schulden der Vereinigten Staaten mittlerweile 230% des Bruttosozialproduktes betrugen, die Geldmenge M2 war im letzten Monat in bezug auf die Geldmengenbasis weiter zurückgegangen, dafür betrug das Verhältnis zwischen der Geldmenge M3 und dem verfügbaren Goldbestand des Schatzministeriums 42:1. Sorgenvoll wies auch seine Bank in ihrem letzten Monatsbericht darauf hin, dass die Deckungsschere zwischen finanziellen und realen Vermögenswerten immer weiter auseinanderklaffte. Mit warnend erhobenem Zeigefinger hatte das “Wall Street Journal” vor einigen Wochen geschrieben: Sie können Ihr Zweihunderttausend-Dollar-Haus zu hundert Prozent belasten, vielleicht im Vorgriff auf eine inflationäre Wertsteigerung auch mit hundertdreissig Prozent, aber nicht mit dem Zwei- oder gar Dreifachen seines Kaufpreises. Shapiro sah auf die Uhr. Gleich würde Betsy, seine treue Sekretärin, kommen und ihn an den Lunch mit Mrs. Deborah J. Baldinger von der Chase Manhattan Bank erinnern. Deborah J. Baldinger war eine attraktive Enddreissigerin, unverheiratet und Executive Vice President und Treasurer der Bank, mit der die Chemical Bank vor vier Jahren fusioniert hatte. Seitdem hatten sich die Kontakte zwischen den Spitzen der beiden Banken natürlich verdichtet. Schliesslich sollte die Fusion zu Einsparungen in Milliardenhöhe führen, ausserdem war eine Streichung von insgesamt zwölftausend Arbeitsplätzen geplant. William C. Shapiro war zwar seit zwanzig Jahren glücklich verheiratet, was aber nicht bedeutete, dass er eine Karrierefrau, die nicht nur austeilen sondern auch einstecken konnte, intelligent war und dazu noch gut aussah, nicht zu schätzen wusste - und das vielleicht nicht nur platonisch. Er seufzte. Heute war Freitag, und im Familienrat war beschlossen worden, dass er dieses Wochenende nicht im Büro verbringen würde, sondern dass die ganze Familie, einschliesslich Pat und Robin, seine dreizehn Jahre alte Tochter und sein fünfzehn Jahre alter Sohn, in den Wald fahren würden, um dort einen Weihnachtsbaum auszusuchen und dann eigenhändig die Axt an diesen anzulegen. Allerdings hatte er darauf bestanden, die Axt durch eine kleine Motorsäge zu ersetzen, schliesslich befand er sich im herzinfarktgefährdeten Alter und sah nicht ein, dass er das Schicksal durch ungewohnte körperliche Anstrengung geradezu herausfordern sollte. Betsy erschien in der Tür.

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"Mr. Shapiro, Ihr Lunch mit Mrs. Baldinger."

Shapiro hatte sich aus seinem Sessel erhoben.

"Ich weiss, Betsy."

"Henry wartet mit dem Wagen im Parkdeck P3."

"Sehr schön. Wir wollen Mrs. Baldinger nicht warten lassen."

Im Fahrstuhl auf dem Weg ins Parkdeck fiel ihm ein, dass er mit Harry heute unbedingt noch die neueste Liste der Risikodarlehen durchgehen musste. Vielleicht konnte man noch einmal so ein Geschäft landen wie damals der Verkauf von achtzig Immobilien an Morgan Stanley.

Er war mit Mrs. Baldinger im "Plaza" verabredet. Es war ihr Vorschlag gewesen, und er hatte gerne zugestimmt, weil der Weg von seinem Büro, am Central Park vorbei, zum "Plaza" nur kurz war. Obgleich er die Küche des "Plaza" nicht in bester Erinnerung hatte. Deborah C. Baldinger erwartete ihn bereits. Sie war gross und schlank, trug ihr kastanienbraunes Haar lang auf die Schultern fallend und dazu passend ein eng anliegendes eidottergelbes Tailleur, das sicher nicht von der Stange gekauft worden war. Ihre Nase war etwas zu gross geraten, aber sie hatte ausdrucksstarke, grosse blaue Augen unter Augenbrauen, die sanft geschwungen waren, wie eine spanische Tilde, ein festes Kinn und einen schmallippigen Mund. Als sie ihn entdeckte, verzog sich ihr Mund zu einem leichten Lächeln. "Hallo, William", sagte sie. Er hatte ihr diese persönliche Anrede, die ihm in der Öffentlichkeit eines Hotels nicht behagte, nicht abgewöhnen können, und seine Entgegnung kam etwas zögernd:
"Hallo, Deborah, ich hoffe, du hast nicht lange warten müssen."

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Bevor sie etwas sagen konnte, kam der Ober und brachte sie an den Tisch, den die Sekretärin Shapiros reserviert hatte. Shapiro bestellte "zum Aufwärmen", wie er bei dieser Gelegenheit immer zu sagen pflegte, zwei Martinis. Während sie beide in das Studium der Speisekarte vertieft waren sagte er: "Ich habe gerade den letzten Bericht der Federal Reserve Bank über die Geldmengenentwicklung gelesen, scheint mir ein weiteres Alarmzeichen zu sein."
"Und die Liste des IDC mit den Banken in Schieflage wird jedesmal länger", seufzte sie, während sie sich in die Speisekarte vertiefte. Sie entschieden sich beide für Fisch. Nach Shapiros Meinung das einzige, was im "Plaza" geniessbar war. Ihr Gespräch drehte sich wie ein Karussell, aber in der Öffentlichkeit vermieden sie alle privaten Anspielungen. Beide waren über die schlechte Halbjahresbilanz von Troy & Nichols beunruhigt, der Hypothekenbank, die die Chase Manhattan vor einigen Jahren erworben hatte.

"Wenn eine Investition ein Fehler war, muss man das rechtzeitig einsehen", sagte Shapiro, "dann kann aus einem Fehler noch etwas Gutes entstehen. Aber man darf nicht den richtigen Zeitpunkt verpassen."
Deborah C. Baldinger drehte ihr noch halb mit Ginger Ale gefülltes Glas hin und her.

"Du meinst, ein Ende mit Schrecken ist immer noch besser..."

"Ja", fiel Shapiro ihr ins Wort, "Troy & Nichols ist ein faules Ei, ihr solltet es abstossen, bevor es zu stinken anfängt."

Nach dem Lunch verabschiedeten sie sich mit grossem Zeremoniell, Shapiro verstieg sich sogar zu einem altmodischen Handkuss, wozu Deborah ihn mit ihrer ausgestreckten rechten Hand und einem ironischen Lächeln herausforderte. Dann ging Shapiro zur Rezeption und liess sich den Schlüssel für das Zimmer geben, das er selbst auf den Namen Roberts reserviert hatte. Er fuhr mit dem Aufzug in den neunten Stock. Vom Zimmer aus bestellte er durch den Zimmerservice eine Flasche kalifornischen Champagners. Nach wenigen Minuten klingelte es an der Tür. Als er öffnete, stand Deborah vor ihm.

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