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Die Sage vom königlichen Kaufmann
© Peter Schönau

 

"Die deutsche Industrie hatte schon immer gute Kontakte nach Japan."

"Sie meinen IG Farben."

"Ja, die 'Achse'".

Der Paternoster im Verwaltungshochhaus von Bayer quietschte, als hätte sein letztes Stündlein bald geschlagen.

"Phosgen, sage ich nur, Phosgen."

"Aber Japan?"

"Nicht Japan, die Anlage wird angeblich nach Südkorea geliefert."

"Trotzdem, die Ausfuhrgenehmigung."

"Oh, wir werden die Anlage unverdächtig deklarieren. Dafür haben wir unsere Leute." Wir waren auf dem Weg ins Casino.

"Dort kann uns jedenfalls keiner abhören," sagte mein Gesprächspartner, halb im Scherz und halb im Ernst, "dort sind wir ungestört."

Im Bayer-Casino mit seinen Kristalleuchtern und dem Interieur im Stil der Gründerjahre war für uns ein Tisch reserviert. Als ich mit meinem gehäuften Teller vom Buffet zurückkehrte, stand bereits eine Flasche französischen Rotweins auf dem Tisch. Mein Gastgeber schenkte ein und wir prosteten uns zu. Der Wein schmeckte nach Korken, und ich stellte fest, dass ich - jedenfalls was die Getränke betraf - im Casino der GHH in Oberhausen schon besser bedient worden war.

"Übrigens, sind Sie an einem kleinen Insidergeschäft interessiert?" fragte mein Gegenüber abrupt. top

Ich stutzte und zuckte als Antwort mit den Schultern.

"Wenn es meine finanziellen Verhältnisse erlauben."

"Aktien eines amerikanischen Unternehmens, "American Fragrances".

"Eine neue Akquisition von Bayer?" fragte ich.

Er nickte. "Wahrscheinlich."

Dann kamen wir auf den eigentlichen Gegenstand unseres Treffens zurück.

"Der Verkauf einer Phosgenanlage mit allem Know-how und Pipapo ist natürlich ein Politikum, und dann noch nach Japan. Da werden alte Assoziationen mit Achsenmächten, IG-Farben und natürlich den Nazis wach. Vielen würde der Geruch alter Seilschaften unangenehm in die Nase steigen. Geheimhaltung, auf jeder Stufe, in jeder Phase des Projektes, ist ein absolutes Muss."

"Ich verstehe", sagte ich.

"Da Ihr Bereich die Erstellung der kaufmännischen und technischen Dokumentation sein wird, müssen Sie uns die absolut wasserdichte Wahrung der Vertraulichkeit der Unterlagen, die Sie von uns bekommen, garantieren können."

"Verstehe", erwiderte ich und nickte bekräftigend mit dem Kopf.

Mein Gastgeber schenkte etwas von dem Rotwein nach, aber ich griff statt dessen nach dem neben mir stehenden Glas mit stillem Wasser.

"Sie mögen den Wein nicht?" sagte er prompt.

"Oh doch, er ist ausgezeichnet," log ich und schenkte mir, nunmehr in mein Schicksal ergeben, das Glas voll. top

"Nehmen wir ein Beispiel," fuhr er dann in einem dozierenden Ton fort.

"Selbstverständlich wäre es unter den heutigen technischen Voraussetzungen das normale Vorgehen, eine Dokumentation, die mehrere tausend Seiten umfasst, auf dem Computer zu erstellen."

Ich nippte an meinem Wein und nickte.

Er hob warnend den Zeigefinger seiner rechten Hand und schüttelte den Kopf: "Mitnichten, mein Lieber, mitnichten! Zu viele Missbrauchsmöglichkeiten. Passwörter sind so leicht zu knacken. Ausserdem, wie weit ist auf das schreibende Personal tatsächlich Verlass? Wie leicht kann jemand mit einer Diskette in der Jackentasche das Werktor passieren."

"Alles richtig", entgegnete ich. "Aber was wollen Sie gegen diese Risiken unternehmen?"

Er lächelte überlegen.

"Wir kehren zur guten alten Schreibmaschine zurück."

Ich hatte Mühe, mich nicht zu verschlucken. Trotzdem musste ich mich räuspern, um ein Stück Parmaschinken wieder auf den richtigen Weg durch die Speiseröhre zu bringen. "Ich weiss, ich weiss", sagte er schnell. "Sie werden sagen, das sei heute ein antiquiertes und viel zu arbeitsaufwendiges Verfahren. Schön, dafür müssen wir eben bezahlen. Aber", und er hob wieder den Zeigefinger, diesmal seiner linken Hand, weil er mit der rechten nach seinem Weinglas griff, "dieses Verfahren hat in Punkto Sicherheit unbestreitbare Vorteile."

Ich sah ihn erwartungsvoll an.

"Erstens - das Anfertigen von Kopien ist umständlich und kann nicht im Verborgenen erfolgen.

Zweitens - mit einem dicken Aktenordner unter dem Arm oder in der Aktentasche kommt man nicht so leicht am Werkschutz vorbei. top

Drittens - das Risiko ist für jeden, der Dokumente unbefugt aus dem Werk schaffen will, ungleich grösser. Die Gefahr entdeckt zu werden, wird abschreckend wirken."

Ich konnte seiner Logik zwar folgen, allerdings bedeutete sie für uns die Anschaffung obsoleter beziehungsweise den Einsatz ausgemusterter Kugelkopfschreibmaschinen von Big Blue.

"Sind Sie eigentlich einverstanden" fragte er dann vorsichtig, "das Projekt auf diese Ihnen wahrscheinlich vorsintflutlich erscheinende Art und Weise abzuwickeln?"

Gegen meine tiefste Überzeugung sagte ich: "Ja, wenn Sie sich wirklich etwas davon versprechen, ich meine sicherheitsmässig", wobei ich überlegte, dass jeder mich einen Idioten schimpfen würde, wenn ich mein Sechsgangfahrrad gegen den alten Drahtesel eintauschen würde, der bei uns in der Garage stand und den ich nur aus Pietät nicht in den Sperrmüll gegeben hatte, weil mein Vater ihn für uns Kinder vor vielen Jahren repariert und geflickt hatte, damit wir unsere ersten Ausflüge auf dem Fahrrad machen konnten.

Mein Gastgeber nickte ganz energisch, "zweifellos, sonst würde ein so fortschrittshöriger Mann wie ich Ihnen nicht mit einem solchen Ansinnen kommen."

"Oh, sicher nicht", sagte ich besänftigend.

Nach dem Essen kehrten wir in sein Büro zurück, und am Ende unseres Gesprächs gab er mir zwei mit Unterlagen gefüllte Leitzordner für die Heimreise mit. Wie es die Vorschriften verlangten, hatte er einen Zettel ausgefüllt und unterschrieben, damit ich, wie er mir erklärte, beim Verlassen des Werkes mit diesem Material keine Schwierigkeiten bekäme.

Es war ein sonniger Juninachmittag, als ich im Feierabendstrom von Angestellten und Arbeitern das Werktor passierte, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, mich nach dem Inhalt der Leitzordner zu fragen, die ich unter dem Arm trug.

So viel zum Thema Sicherheit bei einem deutschen Grossunternehmen, dachte ich, und verlagerte das Gewicht der zwei Leitzordner von einem Arm auf den anderen.

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