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Was Schweizer Käse und Schweizer Moral gemeinsam haben
© Peter Schönau

 

Zwei Flaschen Bier, die mir der Schlafwagenschaffner gebracht hatte, taten ihre Wirkung, und so schlief ich in einem Zweibettschlafwagenabteil des Nachtzuges von Hamburg nach Basel mit einem Erinnerungsschnelldurchlauf an meinen letzten Aufenthalt in Basel einem nassen Herbstmorgen entgegen, ohne auch nur einmal aufzuwachen.

Alle grossen Bahnhöfe riechen nach McDonald's, auch der SBB-Bahnhof in Basel macht davon keine Ausnahme.

Ich nahm die Tram zum Wettsteinplatz, wo ich im Hotel "Resslirytti" ein Zimmer reserviert hatte. Für meine Besuche bei Hoffmann-La Roche bevorzuge ich dieses Hotel, weil es von hier bis zur Grenzacher Strasse nicht weit ist, beinahe "walking distance" würden die Amerikaner sagen.

Auf der Fahrt fiel mir der Traum wieder ein, den ich gestern nacht geträumt hatte. Selten behalte ich mehr als Bruchstücke von meinen Träumen, doch in diesem Fall war etwas mehr als sonst in meinem Gedächtnis hängen geblieben. Ich hatte von Banken, Schmiergeldern und Korruption geträumt. Reisen in die Schweiz regen mich immer zu solchen Assoziationen an, wahrscheinlich wegen der Anhäufung von Macht, die Geld verleiht, auf so engem Raum.

Im Traum war ich einem Banker begegnet, der mich ständig wissend anlächelte und unablässig letzte Wahrheiten verbreitete. Eine davon hatte ich erstaunlicherweise behalten: "Korrupte Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie in kleinen Dingen den bürokratischen Aufwand treiben, den sie bei den grossen Betrügereien vermissen lassen." Ich rieb mir nachdenklich das Kinn, und ich muss zugeben, es fiel mir nicht sonderlich schwer, Beispiele zu finden, die diese Theorie erhärteten.

Im Hotel machte ich mich frisch und fuhr dann mit dem Fahrstuhl ins Restaurant hinunter, um einen Kaffee zu trinken.

Irgendwie wirkt die Umgebung dort auf mich immer wie eine Zirkusarena. Die Tische sind im Halbkreis um einen Bartresen gruppiert, der aussieht wie eines dieser Pferdekarusselle, die man auf Jahrmärkten findet. Die Wand dahinter besteht aus grossen Spiegeln, und wenn man sich umdreht, blicken einen buntbemalte Pferdeköpfe aus toten Augen an. top

Bei Hoffmann-La Roche empfängt mich im Gebäude 74 ein freundlicher älterer, weisshaariger Herr. Ich kenne ihn, und wir begrüssen uns so leutselig, wie dies zwischen einem Norddeutschen und einem Alemannen, die miteinander Geschäfte machen, gerade noch möglich ist: mit einem Händedruck, einem gemurmelten "Grüss Gott" meinerseits und einem schweizerisch gefärbten "Guten Tag" seinerseits.

Es gibt Menschen, denen ich aus bestimmten Gründen dankbar sein muss, zum Beispiel weil sie meine Karriere gefördert haben, doch Dankbarkeit ist eine Frage der Zeit. Je länger man dankbar sein muss, um so weniger dankbar wird man. Er gehört nicht zu dieser Gruppe (jedenfalls noch nicht, da muss unsere Zusammenarbeit schon etwas mehr abwerfen als bisher); das ist in gewisser Hinsicht ein Vorteil, man geht offener miteinander um. Allerdings frage ich mich bei solchen Gesprächen wie diesem, das wir gerade beginnen, ob ich mir da nicht etwas vormache. Ist doch die zur Schau gestellte Offenheit oft genug nur ein intelligenter Deckmantel für eine abgefeimte Lüge. Es lebe die Heuchelei!

Ich falle nicht mit der Tür ins Haus, das heisst, ich frage nicht nach dem eigentlichen Grund unseres Treffens. Solche Treffen haben oft zwei Gründe, einen offensichtlichen und einen weniger offensichtlichen. Deswegen rede ich über einen neuen deutschen Film, den ich vor wenigen Tagen gesehen habe.

"Die Deutschen machen keine guten Filme, weil ihre Filme immer so intelligent sein müssen wie sie selbst (sich einschätzen)", sagt er daraufhin mit einer etwas herablassenden Handbewegung.

"Wie recht Sie haben", antworte ich. Schliesslich ist er der Kunde. Allgemeines Räuspern markiert die Überleitung zum eigentlichen Gegenstand unseres Gesprächs.

"Wir haben ein kleines Problem", sagt er, "bei dessen Lösung Sie uns möglicherweise behilflich sein können."

Ich beuge mich etwas vor, um zu signalisieren, dass er meine ungeteilte Aufmerksamkeit hat. top

"Selbstverständlich, wir werden tun, was wir können."

"Es geht um Tausende von Bewerbungen, die uns jedes Jahr erreichen. Wissenschaftlich hochkarätiges Personal aus den verschiedensten Bereichen, das uns seine Dienste anbietet, ebenso wie Studienabgänger mit taufrischem Abschluss, die bei uns ihre Karriere beginnen wollen. Sie verstehen, die Blüte des europäischen Pharmanachwuchses, und sogar darüber hinaus. Schliesslich operieren wir weltweit." Ich nicke und sage diesmal nichts, weil ich weiss, dass er in seinem Vortrag nicht unterbrochen werden möchte.

"Leider sind sehr viele dieser Bewerbungen in Englisch abgefasst, die englische Sprache ist nun einmal die Lingua franca dieser Welt. Und das führt uns zu unserem eigentlichen Problem." Er lächelt etwas nachsichtig. "Unsere Personalabteilung besteht auf deutschen Unterlagen. Wir suchen deswegen nach einem kostengünstigen und schnellen Verfahren, um eine deutsche Fassung dieser Unterlagen, aus welchen Dokumenten sie auch immer bestehen mögen, zu erstellen."

Seine Augen tasten mich ab, als wollte er feststellen, ob ich seinem Vortrag auch voll folgen kann.

"Ich bin auf dem Gebiet natürlich nur ein Laie, aber wir haben an ein Verfahren gedacht, bei dem die Originalunterlagen in einem normalen Textverarbeitungsformat eingescannt und dann maschinell übersetzt werden. Was sagen Sie dazu?"

Ich überlege einen Augenblick, bevor ich antworte. Es macht sich immer gut, etwas zu zögern. Man erweckt damit den Eindruck, sich intensiv mit einem Problem zu befassen.

"Durchaus machbar", sage ich dann, "wenn Sie uns maschinenlesbare Unterlagen zur Verfügung stellen. Ich meine ohne die Hieroglyphen, die zum Beispiel auf den Rezepten stehen, die mein Hausarzt ausstellt."

Er nickt, "das dürfte möglich sein."

Einen Augenblick spielt er mit einem Kugelschreiber.

"Wir möchten allerdings, dass Sie uns nicht nur das Endprodukt zur Verfügung stellen, sondern auch die eingescannte Originalversion. top

Ich zucke mit den Achseln. "Warum nicht, schliesslich ist sie ja eine Zwischenstufe des Prozesses."

"Eben", erwidert er, "genau das habe ich auch gedacht."

Er räuspert sich. "Natürlich brauche ich nicht besonders darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem zu bearbeitenden Material um sehr sensible, streng vertraulich zu behandelnde Unterlagen handelt."

Ich nicke. "Natürlich" sage ich dann beruhigend, "Sie können sich auf unsere Verschwiegenheit voll verlassen."

"Das wusste ich."

Als wir uns verabschieden, lächeln wir uns zu, doch noch auf dem Weg mit dem Fahrstuhl hinunter in die Empfangshalle beginnt bereits ein (für mich) wenig schmeichelhafter Verdacht an mir zu nagen. Ich habe das Gefühl, ein Schaufenstergeschäft getätigt zu haben; eine Seite ist für jedermann offensichtlich und die andere bleibt im verborgenen. In meinem Hotelzimmer fasse ich den Gesprächsinhalt auf meinem Notebook zusammen. Und je mehr ich schreibe, um so schneller beginnen meine Gedanken sich selbständig zu machen.

Es ist eine völlig andere Version der Projektnutzung, die dabei herauskommt und die das Ergebnis, das wir liefern sollen, zu einem Nebenprodukt stempelt.

Ich sehe den Aufbau einer riesigen Datenbank vor mir, gespickt mit den Daten von Abertausenden von Bewerbern: Vom Ort und dem Tag ihrer Geburt bis zu ihren Hobbys, mit Angaben zu ihrer Person, über Fähigkeiten, spezielle Neigungen und Interessen, Informationen über ihren Werdegang, Tätigkeit in Wettbewerbsunternehmen, Teilnahme an Forschungsprojekten. Jederzeit auf Knopfdruck abrufbar. Und sobald ein interessanter Name in einer Veröffentlichung des Wettbewerbs erscheint, kann sofort ein Abgleich mit der eigenen Datenbank erfolgen, um zu entscheiden, ob zum Beispiel ein Abwerbungsversuch unternommen werden sollte.

Ich überlege, dass es interessant wäre zu erfahren, ob die Bewerber über die Erfassung und Speicherung ihrer Daten informiert werden. Doch ich muss mich im gleichen Augenblick für so viel Naivität rügen, das wäre wohl zuviel verlangt.

Während ich einen Gintonic trinkend bei "Euler" sitze und auf die Abfahrt meines Zuges warte, betrachte ich fasziniert das rote Plakat auf der anderen Strassenseite, das jemanden darstellt, der Josef Stalin ähnlich sieht, und an seinem oberen Rand steht in fetten schwarzen Buchstaben DER GROSSE BRUDER SIEHT DICH.

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