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Kapitale des Verbrechens

VON PETER SCHÖNAU
© Peter Schönau

In San Isidro, einem Vorort im Norden von Buenos Aires, gingen vor einer Woche ca. 18.000 Menschen auf die Strasse um gegen die neueste Welle brutaler Verbrechen zu demonstrieren. Anlass war der Mord an einem Ingenieur gewesen. Vier jugendliche Straftäter waren in das Haus eingedrungen und hatten die Familie mit Schusswaffen bedroht. In einem Handgemenge wurde der Familienvater erschossen und sein Sohn durch einen Schuss verletzt. Doch dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der überbordenden Gewaltkriminalität der letzten Wochen.

Innerhalb der letzten Woche wurden zwei Polizisten bei dem Versuch, eine Straftat zu vereiteln erschossen. Ein Kiosk wurde überfallen, ein Angestellter angeschossen; die Beute der Bande betrug umgerechnet etwa 8 Euro.

Ein Taxifahrer wurde in seinem Taxi erschossen. Dem Sohn, der in diesem Augenblick versucht hatte, seinen Vater über das Handy zu erreichen, antwortete einer der Täter: "Dein Alter hat sich gerade eine Kugel eingefangen."

Ein Achtzehnjähriger wurde auf dem Weg zur Arbeit erschossen. Die Täter liessen ihr Opfer halbnackt zurück. Sie hatten alle Kleidungsstücke mitgehen lassen, die sie gebrauchen konnten.

Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Kriminalstatistik, die das Blut in den Adern gefrieren lässt. Was sie unter anderem belegt, ist eine erschreckende Verrohung und Zunahme der Gewaltbereitschaft der Täter und dass es sich bei diesen überwiegend um Minderjährige handelt. Deshalb sind inzwischen Stimmen laut geworden, die verlangen, das Strafmündigkeitsalter, das in Argentinien bisher bei 16 Jahren liegt, herabzusetzen. Die Meinungen über die Zweckmässigkeit und Wirksamkeit einer solchen Massnahme gehen auseinander. Ihre Gegner prangern vor allem das Fehlen der sozialen Prävention an und verweisen darauf, dass die argentinische Justiz in einem Schneckentempo arbeitet, Prozesse bis zur Aburteilung der Straftäter (die bis dahin sehr oft auf freiem Fuss bleiben) eine Ewigkeit dauern und die Gefängnisse überfüllt sind.

Eine allgemein anerkannte Tatsache ist allerdings, dass die Gewalt vor allem von den Slums ausgeht, die Buenos Aires wie ein eiserner Ring umschliessen. Die Anzahl dieser Behelfssiedlungen beträgt zwischen 400 und 600. Der Gouverneur der Provinz hat sie vor kurzem als "Orte mit einem hohen Gefahrenpotential und für die Polizei nicht zugänglich" bezeichnet, wohin die Straftäter sich ohne Risiko einer Verfolgung flüchten könnten. Ein Leitartikler der Tageszeitung "La Nación" hat dazu bemerkt, dass in Argentinien eine Verneinung der individuellen und kollektiven Hierarchien Platz gegriffen habe. Wenn jedoch Vater und Sohn, Lehrer und Schüler, der Polizist und der Straftäter auf eine Stufe gestellt würden, könne dies nur in Anarchie und materieller und moralischer Misere enden.

Dieser Text ist auch in der Zeitung «Die Südostschweiz» in der Rubrik «Boulevard» erschienen

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