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Kulturpolitik:
Prominenz in der Provinz

VON VERA BUELLER

Mit dem schlichten Einwand, er dirigiere doch nicht in einer Leichenhalle, hat Stardirigent Claudio Abbado dem Pariser Architektur-Grossmeister Jean Nouvel zu einer völlig neuen Farbästhetik und den Luzerner Bauherren des vielleicht besten Konzertsaales der Welt zu teuren Erfahrungen in Sachen Diplomatie verholfen. Nachtblau-dunkel sollte der Saal nämlich nach dem Konzept Nouvels werden. Doch Abbado wollte was Helles. Er und seine Berliner Philharmoniker würden sonst nicht zum Eröffnungskonzert der nächsten Internationalen Musikfestwochen (IMF) im neuen Haus antreten, trötzelte er. Und nach eifriger Mobilmachung bei seinen Kollegen konnte er sicher sein, dass auch kein anderer Dirigent unter solchen Umständen mit Beethovens Neunter zur Verbrüderung aufrufen würde.

Bei der Konzertsaal-Trägerstiftung folgte Kommissionssitzung auf Kommissionssitzung. Schliesslich reiste eine Delegation der Bauherrschaft nach Paris, um Nouvel zu bekehren. Der erinnerte sich glücklicherweise eines «ästhetischen Schocks», der ihm bei seiner letzten Bauplatzbegehung in Luzern zuteil geworden war: Mitten im Raum stehend hatte er «in der jungfräulichen Reinheit des akustischen Reliefs» (24'000 Gipselemente an den Wänden) eine «starke Faszination» entdeckt. Nun wird der Konzertsaal weiss.

Dummerweise war aber das Parkett – von Beige nach Blau verlaufend – bereits entsprechend bunt und teuer eingefärbt worden. Also entschied man, halt den benachbarten, mittelgrossen Veranstaltungssaal des gesamten im Bau befindlichen Kultur- und Kongresszentrums (KKL) samt Bühnenelementen in eine «Leichenhalle» zu verwandeln - oder zumindest den Boden blau zu belegen. Jetzt streiten sich die Trägerstiftung und der Totalunternehmer (Elektrowatt-Engineering/Göhner Merkur AG) über die von Abbado verursachten Mehrkosten. Es ist nur eine von vielen Differenzen. Denn die urbane Begegnung zwischen der aus internationalen Metropolen angereisten kulturellen Prominenz und dem wirkliche Leben in der Provinz gestaltet sich weit schwieriger als gedacht. Ort der Zerwürfnisse waren mal die Echohallen des New Yorker Starakustikers Russell Johnson, die Nouvel vorerst nicht haben wollte, dann lagen sich die beiden Primadonnen wegen der Oberflächengestaltung der Wände in den Haaren, bis sie sich schliesslich auf Gipsreliefs einigten. Und wollten dann die Stukkateure vor Ort wissen, wie sich das der Architekt konkret vorstelle, meinte der nur – chaotisch und grossmäulig -, sie würden nach ein paar Glas Wein oder Bier «instinktiv die richtige Form finden», wusste gar die NZZ zu berichten.

Wieviel Luxus in einer Toilette?

Auch andere Details waren auf den 1:100-Plänen nicht voraussehbar. So kommt es, dass man sich in der Leuchtenstadt plötzlich fragt, wieviel Luxus in einer Toilette von Nöten ist: Soll der Konzertbesucher künftig unheimlich kompliziert, dafür aber athmosphärisch gediegen pinkeln? Und was ist unter «spiegelglatt» zu verstehen, wenn Steinplatten gewählt und verlegt werden müssen? Oder mit welchem Stoff bezieht man nun die Stühle, nachdem die erste Wahl geknittert hatte – und man sich im neuen Wahrzeichen von Luzern kein Leder leisten will? Auch die Grösse der Glasfronten gibt zu Reden: Täten es genormte 6 statt aussergewöhnlich teure und fragile 6,30 Meter nicht auch? Und immer neue Probleme türmen sich auf. Steigerung sind noch möglich.

Da fliegen im Planungsbüro schon mal krachend Stühle zu Boden, wenn darüber verhandelt wird, ob es sich bei Wünschen und Änderung um eine Konkretisierung, um eine Leistungsvermehrung oder überhaupt um eine Notwendigkeit handelt. Je nach Definition muss die Trägerstiftung (Stadt, Kanton, Konzerthausstiftung, Hotelierverein, Kunstgesellschaft) oder der Totalunternehmer zahlen. Letzterem ist bereits klar geworden, dass am Schluss kein Generunternehmerhonorar mehr übrig bleibt. Es könnte aber auch schlimmer sein: Mit einer Bauteuerung in den letzten Jahren wäre die Arge Elektrowatt/Göhner Merkur heute wohl ruiniert.

Derweil liegen bei der Trägerstiftung 160 Änderungsrapporte im Wert von nicht einkalkulierten 9,2 Millionen Franken. Die Stiftung ist damit ziemlich pleite. Denn auch die eigenen Leistungen kosten nicht mehr 3 sondern 6,9 Millionen Franken. Dazu gesellen sich zusätzliche Aufwendungen für das IMF-Provisorium vom letzten Sommer in einer Industriestahlhalle. Und weil das Bauprogramm des KKL um anderthalb Jahre beschleunigt wurde, fehlen die nach altem Plan terminierten Beiträge der öffentlichen Hand (insgesamt 118 Millionen) - ein Zwischenfinanzierungskredit verschlingt jetzt wertvolle Zinsen. Dafür ist es der Bauherrschaft gelungen, weitere private Spenden von 7 Millionen Franken einzutreiben und von Vergünstigungen oder Minderausgaben zu profitieren. Unter dem Strich summieren sich die Mehrkosten dennoch auf 7,2 Millionen Franken. Sie sprengen einen Kostenrahmen von 200 Millionen Franken, der sich aus städtischen, kantonalen und privaten Geldern zusammensetzt. Die Grundhypothek musste deshalb von 17 auf 25 Millionen Franken aufgestockt werden, wie der Geschäftsführer der Trägerstiftung und Dompteur an allen Fronten, Thomas Held, offen zugibt.

Ein pensionierter Qualitätskontrolleur

Er verhehlt auch nicht, dass wegen des Kostendrucks Qualitätseinbussen befürchtet und die Bauarbeiten auf Herz und Nieren geprüft werden. Dafür hat die Stiftung einen pensionierten Qualitätskontrolleur engagiert. Pensioniert deshalb, damit ihn keine Seite unter Druck setzen kann. Der reist dann auch schon mal nach Italien und kommt mit zwei Arbeitern zurück, die den Innerschweizern das spiegelglatte Verlegen von Steinböden mit kaum sichtbaren Fugen erst noch beibringen müssen.

Fürs 110 auf 110 Meter grosse Dach, das die funktionale Dreifaltigkeit von Kongress-, Veranstaltungs- und Konzerttrakt unter sich vereint, kam die Sorgfalt zu spät. Vor einem Monat krachten von der Dachunterseite zwei 30 Kilo schwere Aluplatten nur mit Glück keinem Passanten auf den Kopf. Heute weiss man, dass ein Konstruktionsfehler die Ursache war und die gesamte Verankerung sündhaft teuer nachgerüstet werden muss.

Ob etwa aus Spargründen die Regeln der Baukunst vernachlässigt wurden, ist Teil einer strafrechtlichen Untersuchung. Unbestritten bleibt, dass der Kostendruck beim gesamten KKL-Bau auf die einzelnen Handwerker und Lieferanten enorm war und ist. Die Vergabe der Arbeiten unterstand nicht dem kantonalen Submissionsgesetz. Sie sah indes eine Begünstigung regionaler Anbieter bei gleichwertiger Offerte vor. Vor allem dann, wenn sie als «relevante Donatoren» für das neue Haus der Künste bereits aufgetreten waren. Gemäss Gönnerliste haben fast alle grösseren Luzerner Bauunternehmer gespendet. Die Verärgerung war deshalb gross, als für die Baumeisterarbeiten der ersten Phase (Konzertsaal) ein Zuger Konsortium, das nicht zu den Sponsoren zählte, einer Luzerner Arge, die eine halbe Million «vorinvestiert» hatte, vorgezogen wurde. Um 300'000 Franken waren die Zuger billiger. Die Luzerner verstanden ihre Welt nicht mehr: Sie hatten schon um 20 Prozent unter dem normale Level geboten.

Andere liessen sich weit tiefer drücken und müssen heute beispielsweise verkraften, dass die Herstellung von Türen fünfmal teurer zu stehen kommt, als sie offeriert hatten. So sehr waren sie von der Aussicht geblendet worden, zu jenen Handwerkern zu gehören, die aus dem Provinznest eine Weltstadt gemacht haben. Schliesslich soll mit dem Vorzeigestück Nouvels Luzern zu einem europäischen Architektur- und Musikwahlfahrtsort aufschwingen. Und alle wollen sie vom Star-Nimbus der daran beteiligten grossen Namen profitieren.

Kein Geld mehr für den Betrieb

Ob das Prominenten-Schaulaufen allerdings auch nach der Fertigstellung des KKL am Fin de siècle anhalten kann, ist fraglich. Denn um die Säle mit Leben zu füllen, braucht man wiederum Geld. Und bei der Betriebskostenplanung driften Einnahmen und Aufwendungen mehr und mehr auseinander. Bei einem budgetierten Umsatz von 10 Millionen fehlen mindestens 250'000 Franken pro Jahr. Eine Überprüfung der Kostenfaktoren hat etwa ergeben, dass man mit drei Putzfrauen – wie zuerst vorgesehen – in dem Riesenkomplex nicht über die Runden kommt... Auch die Energieaufwendungen stimmen nicht mehr, weil das Zentrum auf Gedeih und Verderb einer benachbarten thermischen Alternativenergieanlage und deren Preisbildungspolitik ausgeliefert ist. Vor allem aber hatte der Stadtrat 1994, um die Stimmberechtigten auf den richtigen Kurs zu trimmen, den Luzerner Vereinen günstige Bedingungen für die Benützung der Veranstaltungsräumlichkeiten im KKL versprochen. Über hundert städtische Vereine warben denn auch unisono für die Jahrhundertchance à la Nouvel und übten sich im vorausnickendem Einverständnis mit der Politik. Nun haben sie an insgesamt 198 Tagen einen verbrieften Anspruch auf einzelne Säle. Dann zahlen etwa Bienenzüchter, Numismatiker, Schützen oder Maskenfreunde für die Benützung des Konzertsaales statt 7000 nur 2900 Franken, für den mittleren Saal 1900 statt 3900 Franken und für den kleinen Saal 900 statt 2400 Franken.

Unter solchen Bedingungen hatte die Trägerstiftung freilich ihre liebe Mühe, einen Betreiber für das KKL zu finden. Zumal eine Mitsprache an der architektonischen Gestaltung versagt blieb. Interessenten zogen sich reihenweise zurück. Etwa die Gastrag, die im Basler Stadtcasino die Restauration betreibt. Man habe, wie VR-Präsident Robert Keppler sich ausdrückt, «bildlich gesprochen keinen Springbrunnen mitten in der Küche brauchen können». Gewiss habe Nouvel seinen Marktwert, aber was in der Praxis durchsetzbar sei, interessieren den nicht. So müssten sich Menschen in einem Restaurant unter anderem auch wohl fühlen – was in einem «Aquarium ohne Vorhänge» relativ selten der Fall sei.

Schliesslich sprang ein Grüppchen betuchter Luzerner ein und gründete die Management AG. Den Posten des Generalmanagers, dem unter anderem die Aufgabe zukommt, Kongresse an die Gestade des Vierwaldstättersees zu locken, wollten sie einstweilen nur in der Region ausschreiben. Schliesslich wurde dann aber doch mit Michael Wittwer ein erfahrener Betriebswirt aus Aschaffenburg verpflichtet. Der sucht jetzt nach Mittel und Wegen, wie er den Pachtzins von einer halben Million Franken umgehen und in Veranstaltungen investieren könnte. Denn sonst fehlt ihm schlicht das Geld zum vernünftigen Handeln.

Sorgen auch bei der Luzerner Kunstgesellschaft, die das Kunstmuseum betreiben soll. Auf zwei Komplexen und zwei Etagen verteilt wurde die bildende Kunst in die vierte und fünfte Etage verbannt - und die Ausstellungsfläche gegenüber früheren Versprechen deutlich reduziert. Dies bei gleichzeitig höheren Betriebkosten von 1,2 bis 2 Millionen Franken. 25 bis 35 Prozent hofft man mittels Sponsoren und Mitgliederbeiträgen reinzuholen. Die restlichen Kosten möchte die Stadt vollends dem Kanton aufbürden, wie der Entwurf für einen neuen Lastenausgleich zwischen Stadt und Kanton Luzern vorsieht. Schliesslich muss sich die Stadt angesichts leerer Kassen auf ihre Kernaufgaben konzentrieren, und dazu gehört beispielsweise der Unterhalt des Europaplatzes vor dem neuen Kulturkoloss. Dort stehen Nouvel-Lampen, die wie Sonnenschirme aussehen, denen man eine Schutzhülle übergestülpt hat. Davon gibt es nur eine einzige Reserve. Wehe, es geht mal eine zweite Lampe kaputt – das wird teuer.

Niemand spricht mehr über kulturelle Inhalte

Über kulturelle Inhalte spricht angesichts solcher Geldsorgen im KKL niemand mehr. Nur als es um die Ausgestaltung der Feierlichkeiten rund um die etappenweise Eröffnung des Zentrums ging, machten Kulturschaffende in einem offenen Brief deutlich, wie sehr es an Innovativem fehlt. Folkloristisch schenkelklatschendes Allotria und Sauglattismus im Stile einer Einkaufszentrumeinweihung standen für die Feier der Eröffnung des Konzertsaals – der ersten Tranche des ganzen Zentrums – im kommenden Spätsommer auf dem Programm. Inzwischen wurden Korrekturen für den «Luzerner Tag» vorgenommen. Geblieben ist aber das Bankett für die internationale, nationale und lokale Prominenz, das nicht etwa im neuen Gebäude und auf den imposanten Terrassen des KKL stattfindet, sondern auf der Dampferflotte des Vierwaldstättersees. Das einheimische Eröffnungskomitee wollte nämlich partout keine Stehbankette - weil man dann nicht mittels Tischkärtchen organisieren könne, wer neben wem zu dinieren hat.

Januar 1998