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Kolumne vom 21. Oktober 2002

 Warum wird eigentlich in Frage gestellt, dass das Tessin im Bundesrat vertreten sein soll. Die italienische Kultur ist keine Minderheit, sie hat vielmehr die europäische Zivilsation geprägt. Sie ist nach wie vor eine der grossen Kulturen des Kontinents, und sie hat mehr zu bieten als nur Spaghetti und Chianti. Vor allem kann die Vertretung der italienischen Kultur in der Schweiz nicht einfach der Romandie als Statthalter unter dem Kürzel «lateinische Kultur» übertragen werden. Dass die italienische Kultur ein stärkeres Gewicht nördlich des Gotthards bekommen muss, ist weniger ein Entgegenkommen an das Tessin als vielmehr eine Notwendigkeit für die Schweiz im Herzen Europas und als Nachbar Italiens, dessen längste Grenze diejenige mit der Schweiz ist. Die Schweiz gibt sich allzu leicht dem Trugschluss hin, dass es genüge, ein Staat gebildet aus drei Völkern zu sein, um auch gleichzeitig deren Kulturen zu repräsentieren. Die Schweiz kann jedoch nur dann die Auszeichnung einer multikulturellen Gemeinschaft, im Sinne der Integration der drei grossen Kulturen des Landes, für sich beanspruchen, wenn die jeweils fremde Kultur als unverzichtbarer Teil der eigenen empfunden wird.

Eine solche Haltung ist das glatte Gegenteil der heute praktizierten faktischen Separation der Sprach- und Kulturregionen, bei der man sich gegenseitig weitgehend in Ruhe lässt und die in der Einführung des Englischen als Verständigungssprache beredten Ausdruck findet. Sie ist auch nicht mit dem krampfhaften Bemühen zu verwechseln, wichtige Ämter und Pfründen im Staat sprachproportional zu verteilen. Gefordert ist eine stärkere Durchmischung der drei staatsprägenden Kulturen trotz des damit verbundenen Risikos der härteren Auseinandersetzungen, die zweifellos mit jeder Überwindung einer Separation verbunden wäre.

Bei diesem für die Zukunft unseres Landes unverzichtbaren Schritt kann das Tessin wichtige eigene Erfahrungen einbringen. 25 Prozent der Tessiner Bevölkerung haben keinen roten Pass, dazu kommen die vielen Grenzgänger, die mit den bilateralen Verträgen mit der EU nicht mehr jeden Tag nach Hause müssen. Nicht zu vergessen die Deutschschweizer im Tessin, die zusätzlich integriert werden müssen. Und der Kanton ist mit seiner Integrationspolitik ziemlich erfolgreich.