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«Denken ist mein liebster Sport»
Beschwerdefrei altern: Was ist das Geheimnis der Alten, die noch mit 80 oder mehr topfit sind? Und was weiss die Wissenschaft?
Von Vera Bueller / 11. November 2016
Schon Adam kam auf 930 Jahre, sein Sohn Seth auf 912. Alle zehn Urväter bis Noah erreichten ein ähnlich «biblisches Alter». Wenn wir also nebst der Erbsünde auch die Gene von Adam geerbt haben, müssten wir ebenfalls ein biblisches Alter erreichen können – vorausgesetzt, es sind die Gene, die über unsere Lebensdauer entscheiden.
Doch da widerspricht die Wissenschaft dem biblischen Mythos: Sie geht davon aus, dass sich nur rund 30 Prozent des Alterungsprozesses auf genetische Faktoren zurückführen lassen. «Ausschlaggebend ist unsere Lebensweise», betont Professorin Heike Bischoff-Ferrari. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Geriatrie und Altersforschung an der Universität Zürich und leitet dort die Klinik für Geriatrie. «Unsere Physiologie ist leider limitiert. Ziel ist damit nicht, uralt zu werden.» Sie spricht lieber von einer «Verlängerung der gesunden Lebenserwartung». Und dafür müsse jeder und jede selber etwas tun, schon ab 50. Entscheidend seien die so genannten Multitalente: Viel Bewegung, gesunde Ernährung, Vitamin D Mangel beheben, gute Gesellschaft.
Ob Ruth Gattiker* in ihrem Leben immer auf diese Multitalente geachtet hat? Völlig ausser Atem nimmt sie das Telefon in ihrem Haus in Davos ab – sie sei zum Apparat gerannt, «ich habe mein Auto noch nicht einmal in die Garage fahren können». Gerannt, Autofahren und das mit 93. Sie komme soeben aus Zürich. Dort besucht sie klassische Konzerte, Opern-Aufführungen und Ausstellungen. Dort absolviert sie auch einen Altgriechischkurs. «Kulturgenuss hält jung», verrät sie. Aber ihr körperliches Pensum ist auch nicht ohne: Pilates-Übungen gehören zum täglichen Programm wie auch ausgedehnte Wanderungen – in zügigem Tempo.
Einem Glas Wein nicht abgeneigt
Sie muss in einem Jungbrunnen gebadet haben. Dazu gesellt sich ein kaum zu stillender Wissensdurst. Dem verdankt sie wohl auch ihre Karriere, die sie bis zur Anästhesistin des schwedischen Starchirurgen Ake Senning gebracht hat. Mit ihm führte sie 1969 die erste Herztransplantation am Universitätsspital Zürich durch.
Wieso Sie mit Ihren 93 Jahren so beneidenswert gesund sei? Gewiss habe sie etwas auf die Ernährung geachtet: wenig Zucker, nicht übermässig Fett, viel Gemüse und Obst, eher mageres Fleisch. Aber: Sie habe 25 Jahre lang geraucht; sei einem guten Glas Wein – bis heute – nie abgeneigt gewesen. Neugierig bleiben, viel lesen, sich weiterbilden, das sei ihr Rezept. Lachend meint sie: «Denken ist mein liebster Sport.». Im Übrigen möchte sie «gern 120 werden».
Das wäre dann tatsächlich ein biblisches Alter: Kurz vor der Sintflut hatte Gott ja beschlossen, dass die Menschen maximal 120 Jahre alt werden sollten. Dies entspricht auch ungefähr dem höchstmöglichen biologischen Alter, das ein Mensch heute erreichen kann. Den Rekord hält bislang die Französin Jeanne Louise Calment: Sie wurde 122 Jahre und 164 Tage alt.
Und die einzige noch lebende Person auf der Welt, die drei Jahrhunderte «kennt», ist Emma Morano, geboren am 29. November 1899 in Civiasco (Verselli, Italien). Heute lebt sie am Lago Maggiore. Ihre Tipps für ein langes Leben: Positives Denken, Ärger vermeiden, ein selbstbestimmtes Leben führen – will heissen: «Männer auf Distanz halten» – und täglich zwei rohe Eier essen.
Höherer Proteinbedarf im Alter
Damit liegt sie auf der Linie von Heike Bischoff-Ferrari, die allerdings auf den Zusatz «roh» verzichtet – wohl um nicht den frühzeitigen Tod durch eine Salmonellenvergiftung zu provozieren. «Im Alter braucht man mehr Proteine. Sehr gut wären Molke-Proteine wegen des Leucins. Oder eben täglich ein Ei essen. Das wirkt stimulierend auf die Muskeleiweissproduktion. »
Die Professorin leitet die derzeit grösste Studie in Europa zum Thema «Gesund älter werden» (DO-HEALTH), mit dem Forschungsschwerpunkt Muskelkraft und Osteoporose. Daran nehmen über 2000 Frauen und Männer im Alter 70+ teil. Untersucht wird die Wirkung von Vitamin D und Omega-3-Fettsäuren –, verbunden mit einem moderaten Trainingsprogramm. Die Ergebnisse liegen in etwa zwei Jahren vor. Eines weiss man aber schon heute: Man sollte den Alltag so gestalten, dass man sich möglichst viel bewegt.
Joseph Poffet (82) war stets in Bewegung, allein schon wegen seines Berufes: Pöstler. In der Stadt Bern hat er grosse Touren bewältigt, täglich bis zu 600 Haushalte abgeklappert, meist zu Fuss. Und schon als Kind musste er auf dem elterlichen Bauernhof in Fendringen kräftig zupacken. Das habe wohl den Grundstein für seine gute körperliche Verfassung gelegt, meint der passionierte Orientierungsläufer.
Als um die Jahrtausendwende Nordic Walking aufkam, liess er sich bei Pro Senectute dafür als Gruppenleiter ausbilden. Bis heute ist er topfit. Er arbeitet im Garten, geht regelmässig tanzen, macht täglich Gymnastik, hält den Kopf eine Weile «unter obsi», wandert regelmässig mit den Trekkingstöcken im Wald. «Ich muss immer in Bewegung sein. Ruhig in einem Konzert zu sitzen, da werde ich ganz kribbelig.»
Ab 50 werden Muskeln träge
Man muss sich allerdings gar nicht so extensiv bewegen: «Schon eine halbe Stunde pro Tag senkt die Risiken wie Herz-Kreislauferkrankungen und Knochenbrüche. Man kann das auch aufteilen auf dreimal täglich 10 Minuten», rät Heike Bischoff-Ferrari. Dazu gehöre ein wenig Krafttraining: «Die Muskeln werden ab 50 träge. Um sie fit zu halten, muss man aber nicht zwingend ins Fitness-Center. Treppensteigen, regelmässiges Armmuskeltraining genügen – etwa während des Fernsehens ab und zu zwei Mineralflaschen stemmen.» Wichtig seien die Armmuskeln: Wenn man stürze, was im Alter öfters geschehe, könne man sich besser auffangen und den Sturz so abfedern.
Menschen ab 60 Jahren haben häufig einen Vitamin-D-Mangel. Ihnen empfiehlt Bischoff-Ferrari, 800 Internationale Einheiten (IE) Vitamin D als Tropfen oder in Form von Tabletten täglich einzunehmen: «Vitamin D produziert unser Körper, wenn die Sonne auf die ungeschützte Haut scheint. Das gelingt allerdings nur in den Sommermonaten ausreichend – wobei ein tägliches Sonnenbad von 15 Minuten mit unbedeckten Armen und Gesicht genügen». Nur in wenigen Nahrungsmitteln sei Vitamin D in nennenswerten Mengen vorhanden: in fettreichem Fisch wie Hering oder Lachs, in Eiern oder in Pilzen, die an der Sonne getrocknet wurden. «Man müsste allerdings täglich etwa 14 Eier oder zwei grosse Portionen Wildlachs essen, um seinen Bedarf zu decken», bemerkt Heike Bischoff-Ferrari lachend.
Die Kraft der Heidelbeere
Die heute in Zürich lehrende Professorin hat früher an der renommierten Harvard School of Public Health geforscht. Mit Ihren früheren Kollegen arbeitet sie weiterhin eng zusammen. Dort stehen derzeit Blaubeeren und Nüsse im Mittelpunkt: Sie enthalten besondere Schutzfaktoren, die vor Herz-Kreislauferkrankungen und Gedächtnisabnahme schützen sollen. Auch Tomaten gelten als gesund, am besten gekocht. Orangen, Gemüse, vor allem Rüebli stärken das Gedächtnis. Und ein Glas Rotwein pro Tag kann auch nicht schaden.
Von all den wissenschaftlichen Erkenntnissen hält Alfred Herbert (80), bekannt als «Cash-Guru», wenig: «Die ändern sich ständig.» Er ist Anleger und Anlage-Kolumnist (Cash online, Radio Energy); früher war er Ringhändler an den Börsen in Zürich, Mailand, London oder New York.
Ein Vertrauensarzt habe ihm, dem Hobby-Segelflieger, kürzlich beschieden, es gehe ihm besser als manchem 50jährigen Linienpiloten. Sein Rezept? Nur 4 Stunden Schlaf, mittags ein 20minütiges Powernapping (Kurzschlaf). Er hält sich mit dem Hometrainer fit, geht täglich 6 bis 7 Kilometer in den Rebbergen walken. «Das macht den Kopf frei». Ausserdem raucht er nicht, nimmt keine Medikamente, trinkt aber regelmässig Wein, nur nie Schnäpse. «Das ist der Untergang.» Und er sei «ein Fleischtiger». Schon seine Mutter habe gesagt: «Das Geld bringen wir dem Metzger, nicht dem Arzt».
Die Fleischempfehlung kann Heike Bischoff-Ferrari allerdings nicht unterschreiben. Nach wie vor gelte die so genannte mediterrane Ernährung als optimal: wenig rotes Fleisch, viel Gemüse und Hülsenfrüchte, wenig Süsses, Vollkornprodukte und generell aufs Gewicht achten.
Wer eine Aufgabe hat, regeneriert rascher
Und wichtig seien im Alter die sozialen Kontakte: Der Mensch brauche eine Motivation, er müsse im Leben gebraucht werden. Zu dem Thema liege derzeit eine Diplomarbeit an der Universität Zürich vor, bei der es um den Heilungsprozess von 84jährigen nach einer Hüftbruchoperation geht: «Nach einem Jahr hatten jene Patienten schneller ins normale Leben zurückgefunden, die etwas oder jemanden zu betreuen hatten: einen Menschen, eine Katze, Pflanzen. Oder anders gesagt: Jene, die gebraucht werden.»
Eine mindestens so wichtige Rolle spielen die gesellschaftlichen Kontakte. Das weiss auch Robert Gamma (80). Der gelernte Maurer arbeitete sich hoch vom Polier zum Bauführer und gründete in den 60er Jahren sein eigenes Bauunternehmen. Heute führen es seine Söhne und er hat viel Zeit für die Pro Senectute im Kanton Uri.
Dort leitet er die Langlauf- und Radsportgruppe. Dabei lege er grossen Wert darauf, dass der Sport nur ein Teil sei, «genauso wichtig ist das Beisammensein, gemeinsam zu Mittag essen und ein Glas Wein trinken, miteinander reden». Man müsse es locker nehmen. Selber habe er nie «übertrieben» Sport gemacht. Gesundheit müsse man eben haben. «Wenn Du sie nicht hast, bist Du ein armer Teufel.»
Womit wir wieder bei den Genen wären. Man kennt diese biologische Ungerechtigkeit von Klassenzusammenkünften im höheren Alter: Manche Menschen altern einfach schneller als andere. «Man spricht heute aber mehr vom biologischen Alter als von den Genen», präzisiert Heike Bischoff-Ferrari. Und sie verweist aufs Resultat einer US-Studie: «Es gibt einen Indianerstamm in Nordamerika, der genetisch zu Diabetes Typ2 neigt. Ein Teil dieses Stammes der Pima Indianer wanderte nach New Mexiko aus und lebte dort den American Way of Life.»
Die Folge: Bei fast allen Nachkommen der Auswanderer brach der Diabetes aus. Sie waren übergewichtig oder adipös. Ganz anders bei denjenigen, die in ihren Stammlanden blieben. «Offenbar spielt der Lebensstil doch die entscheidende Rolle».