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Mehr Schaden als Nutzen?
Doktor Youtube erfreut sich grosser Beliebtheit. Gerade in Zeiten von Corona. Doch Vorsicht: Internetdiagnosen und virtuelle Coaches bergen Risiken. Falsch ausgeführte Übungen können zu gravierenden Schäden führen.
Von Vera Bueller / 24. April 2020
Verspannungen zwischen den Schulterblättern? Professor Stephan Geisler hat jahrelang nach der ultimativen Dehnübung dagegen gesucht und präsentiert sie nun seinen 34’600 Abonnenten* auf YouTube: Das rechte Bein anziehen, den linken Arm darum legen, «sich in eine starke Innenrotation begeben» und mit dem anderen Arm über den Rücken das Bein nach hinten ziehen – «bis es zwischen den Schulterblättern Klack macht». Gerd Ibele drückt auf Online-Physiotherapie für 30’900 Abonnenten die rechte Faust in die Beckenschaufel und schwingt leicht das Bein, um den Ischias-Schmerz loszuwerden. Und Medical-Fitnesstrainer Luke Brandenburg plädiert dafür, die Verantwortung für den Körper selbst in die Hand zu nehmen. Ihm hätten nämlich zehn Physiotherapiesitzung gegen diverse Schmerzen nichts gebracht. 86’000 Abonnenten folgen seinen alternativen Video-Botschaften.
Was früher VHS-Kassetten waren, in denen Cindy Crawford oder Jane Fonda Aerobic-Übungen vorgezeigt hatten, hat sich zu einem einträglichen Geschäft mit Gesundheits- und Fitness-Apps und Videos auf allen Social media-Kanälen entwickelt. Rund um den Globus schauen sich die Internetnutzer Filmchen an und hoffen, schlanker, fitter und gesünder zu werden. Ein Trend, der auch manch einem Physio-Guru Millionen von Klicks und entsprechenden Verdienst beschert. Dazu kommen oft Sponsoren-Beiträge und der Erlös aus dem Verkauf von Produkten. Vor allem YouTube bietet Tutorials und Erklärung für fast jedes Leiden, denn jedermann – ungeachtet der fachlichen Kompetenz – kann eigene Videos hochladen.
Zu den erfolgreichsten Influencern gehören im englischsprachigen Raum die Physiotherapeuten Bob & Brad mit 1,79 Millionen Followern. Für sie ist der Körper vergleichbar mit einem Auto – wenn etwas nicht mehr funktioniert, «you just have to fix it». Dazu liefern sie einminütige Übungen zur schnellen Schmerzlinderung und Heilung von so ziemlich allem. Selbst die Multiple Sklerose Gesellschaft bietet MS-Betroffenen im Rollstuhl YouTube-Übungen für den Alltag an – wie die «Armstütz» zur Stärkung der Armmuskeln.
Einst Skizzen, heute Videos
Braucht es also den analogen Physiotherapeuten nicht mehr? Cornelia Furrer, die beim Physiotherapie-Dachverband Physioswiss für den Bereich Professionsentwicklung zuständig ist, differenziert: «Ein Video ersetzt keinen Coach aus Fleisch und Blut. Aber die Zeiten haben sich geändert. Früher haben die Therapeuten und Therapeutinnen Strichzeichnungen von den Übungen für zu Hause gemacht. Heute gibt es dafür Videos, die sie mit dem Patienten aussuchen oder manchmal sogar selbst machen können.» Das sei heute auch ein Thema in der Berufsausbildung. Dabei zeige sich jedoch, dass der Aufwand, für den konkreten Fall jeweils passende Apps oder Videos zu finden, beträchtlich sein könne. «Zumal die Szene schnelllebig ist. Da wird möglicherweise eine App, die man heute grossartig findet, morgen bereits durch eine noch bessere ersetzt», sagt Cornelia Furrer (siehe auch Box). Wichtig ist ihr, «dass der erste Schritt nicht übers Netz geschieht, sondern über eine medizinisch ausgebildete, reale Person, die eine Diagnose stellen kann». Schliesslich gehe es um gesundheitliche Leiden.
Beim Angebot von Videos und Apps muss man grundsätzlich auch zwischen Fitness, Lifestyle und Physiotherapie unterscheiden. Es ist nicht das gleiche, ob es um Körperkult, um Übungen gegen den Schwabbel-Po oder ein Training für mehr Muckis geht – oder eben um die Gesundheit. Doch es gibt Hunderte von Videos, die die Heilung des Karpaltunnel-Syndroms, des Tennisarms und Golfer-Ellenbogens versprechen oder die Lymphdrainagen im Gesicht anwenden wollen (Physiotherapeut Marvin Seidel mit 11900 Abonnenten). Besonders beliebt sind Beiträge gegen Rücken-, Nacken- und Halswirbelschmerzen: Die Schmerzspezialisten Liebscher und Bracht zeigen ihren 746’000 Abonnenten was zu tun ist gegen den schmerzenden Nacken: Man zieht den Kopf während zweier Minuten mit der Hand seitlich-diagonal nach unten. «Der Dehnungsschmerz muss allerdings dabei untere 10 bleiben.» Doch wie weiss der User, wann 10 erreicht ist? «Bei zehn kann man nicht mehr atmen.»
Die Expertin schüttelt den Kopf
Einige dieser Videos lösen bei Isabelle Benguerel von der schweizerischen Arbeitsgruppe für Manuelle Therapie (SAMT) Kopfschütteln aus. In ihrer Praxis in Chiasso hat sie täglich mit Nacken-Halswirbel- und Rückenproblemen zu tun. Sie warnt: «Falsch gemachte Hals-Nackenübungen können zu Schäden an der Wirbelsäule führen.» Man müsse dort und im unteren Rückenbereich immer jeden Fall individuell betrachten und dürfe sich auf keine Selbst- oder Internetdiagnose verlassen. Sie demonstriert dies am Beispiel der im Netz oft propagierten Übung gegen Rückenschmerzen: Die Hände hinten den Rücken ins Kreuz zu legen und nach hinten lehnen. «Das kann bei einer Diskushernie helfen, nicht aber bei einer Arthrose; wobei auch noch entscheidend ist, wo die Hernie sitzt.» Oder aber man mache bei Kraftübungen ein gefährliches Hohlkreuz, weil der Rücken nicht richtig stabilisiert werde und zuerst die Muskeln der Bauchregion aktiviert und aufgebaut werden müssten. Doch Isabelle Benguerel verurteilt die Apps und Videos nicht pauschal. Bei Übungen gegen den Fersensporn, den Tennisarm oder allgemein fürs Stretching könne man nicht viel falsch machen, solange während der Übungen keine Schmerzen verspürt würden. «Und die Online-Angebote helfen zu motivieren, indem sie die Rolle eines Personaltrainers übernehmen. Ideal ist die Kombination von Physio und Digital.» Sie habe sich auch schon selbst gefilmt und das Video ihren Patienten per Mail als Hilfe zugestellt. Aber selbst so würden die Übungen zu Hause oft falsch gemacht. Es brauche einfach immer mal wieder Kontrollen und Korrekturen.
Wenn es nach der Krankenkasse CSS geht, wird die Korrektur künftig eine Puppe übernehmen: Die CSS hat einen digitalen Physiocoach entwickelt, der mittels Mixed-Reality-Brille nicht nur Übungen vorspielt. Sie kann auch Feedbacks geben und korrigieren, wenn der Nutzer elektronische Pads an seinem Körper befestigt. Der virtuelle Therapeut ist noch nicht auf dem Markt, aber das ist nur eine Frage der Zeit.
So erkennt man, ob Videos und Apps seriös sind:
- Hinweis, dass das Angebot den Arzt nicht ersetzen kann.
- Meinungen sind klar als solche deklariert.
- Medizinische Experten sind namentlich genannt.
- Es gibt ein Impressum mit Kontaktdaten.
- Es werden keine Produkte verkauft.
*Alle Abonnentenangaben: Stand April 2020
Der Artikel ist auch im "Beobachter" erschienen