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Das Weihnachtsbrot aus dem Tessin

Weihnachten ohne Panettone? In Italien und im Tessin undenkbar! Die süsse Nachspeise stellt den krönenden Abschluss eines jeden Festtagsmenüs dar. Was so luftig und leicht daherkommt, ist in der Herstellung Schwerstarbeit und steckt voller Geheimnisse.

Von Vera Bueller / 23. November 2020

Das Unglück geschah ausgerechnet an Weihnachten. Alle Adligen der Gegend waren zum fürstlichen Bankett des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza geladen. In der Küche herrschte grosse Aufregung; alles funktionierte prima – bis aufs Dessert: Es ging im Ofen vergessen und verbrannte. Panik! Doch der Küchenjunge Toni vermischte einfach die übrig gebliebenen Zutaten – Mehl, Eier, Zitronenschale, Rosinen und ordentlich Hefe – und schob die Masse in den Ofen. Zögernd setzte sein Chef dann der Festgesellschaft den Hefekuchen vor. Und: Alle waren begeistert! Auf des Herzogs Frage, was das denn sei, gab der Küchenchef zur Antwort: «L’è ‘l pan del Toni» (das ist das Brot von Toni). Aus dem «Pan del Toni» wurde dann der Panettone.

Das Ganze soll sich vor über 500 Jahren abgespielt haben. Ob’s stimmt? Sicher ist nur, dass das fluffige Winter- und Weihnachtsgebäck ursprünglich aus Norditalien stammt und schnell im ganzen Land berühmt wurde. Heute gibt es wohl keinen italienischen Haushalt, in dem zur Weihnachtszeit nicht mindestens ein Panettone aufgetischt wird. Unter dem Namen Panetón findet man diese Spezialität aber auch in Peru, wo jedes Jahr etwa 20 Millionen Stück zur Weihnachtszeit verkauft werden.

Panettone-Hochburg im Tessin

Eine besondere Panettone-Hochburg ist das Tessin, das lange zum Herzogtum Mailand gehörte. Dort werden heute einige der besten, traditionell hergestellten Panettoni produziert. So auch in der Panetteria Poncini im Maggia-Tal. Luca Poncini steht in seiner äusserst warmen Backstube, inmitten noch leerer Gestelle, die Öfen sind prall gefüllt mit Panettone-Laiben. Durch ein schmales Fenster beobachtet er, wie sie bei 170 Grad stetig wachsen. Er lacht: «Ja, es gibt viele Legenden über den Ursprung des Panettone. Es genügt aber bei weitem nicht, einfach ein paar Zutaten zu vermischen und alles kurz in den Ofen zu schieben, wie es Toni am Hof des Herzogs getan haben soll.» Alles in allem dauere es bis zu 40 Stunden, bis ein Panettone fertig zum Vernaschen sei.

Der echte Panettone werde aus der «Lievito Madre», einer italienischen Art Sauerteig hergestellt. Allein um die «Mutter» zu produzieren, brauche es bis zu 12 Stunden: Im Abstand von jeweils dreieinhalb bis vier Stunden wird der Teig mit Mehl und Wasser dreimal «aufgefrischt». Erst wenn der Sauerteig die richtige Konsistenz hat, entsteht der eigentliche Panettone-Teig. Dafür werden Mehl, Wasser, Zucker, Eidotter und viel Butter dazugefügt. Nach weiteren 12 Stunden bei 28 Grad, wenn§ der Teig richtig aufgegangen ist, wird er nochmals mit Mehl, Eigelb, Zucker, Butter und dann mit den Zutaten Rosinen, kandierte Zitrone und Orange, Honig und natürliche Aromen vermischt. «So erhält man eine elastische Teigmasse, die – nach einer erneuten Stunde der Ruhe – geteilt und in die entsprechenden Formen gegeben werden kann, wo sie nochmals für mindestens vier Stunden bleibt», erklärt Luca Poncini und geht zum hinteren Teil der Backstube, wo fünf Mitarbeiter damit beschäftigt sind, die nächste Portion Panettoni für den Backofen vorzubereiten, indem sie die noch flachen und bleichen «Kuchen» mit Lasur bepinseln.

Seit 1904

Es sind lauter «Klassiker», die hier gerade entstehen, traditionell mit 100 Prozent reiner Butter hergestellt. «Alle unserer Spezialitäten sind ohne Konservierungs- und Farbstoffe», betont der Tessiner und fügt hinzu, dass «das Gelingen eines Panettone immer von der Konsistenz und Elastizität der ‹Lievito Madre› abhängt». Dafür brauche es viel Erfahrung. Und die hat er: Bereits in vierter Generation führt er die Bäckerei im alten Teil des Dorfes Maggia. Der aus Ascona stammende Augusto Poncini hatte 1904 hier die erste Backstube eröffnet, als Teil einer Beiz, dem heutigen Ristorante Poncini. Damals sei der Betrieb noch viel einfacher gewesen, erinnert sich der Urenkel: «Die Laibe wurden über die Nacht einfach zum Kühlen ins Freie gestellt. Da konnte es dann passieren, dass der Nachbarshund unbemerkt auf die Terrasse sprang, alles umwarf und sich bediente.»

Als Luca Poncini 1965 die Leitung übernahm, entstanden ein neuer Verkaufsladen und neue Backstuben mit modernen technischen Installationen. Heute boomt das Geschäft – dem Tourismus sei Dank. In der Weihnachtszeit produziert die Poncini-Bäckerei rund 800 Panettoni pro Tag. Und es gibt sie hier, wie auch sonst im Tessin, während des ganzen Jahres zu kaufen; in Italien ist der Panettone hingegen ein klassisches Weihnachtsgebäck. In Mailand wird er nicht vor dem 7. Dezember aufgetischt, denn hier beginnt offiziell Weihnachten am Tag des Sant’Ambrogio, des Schutzpatrons der Stadt. Serviert wird ein Panettone traditionell mit heissen, süssen Getränken oder süssem Wein, wie Spumante oder Moscato.

Gewinner bei der «Swiss Bakery Trophy»

An Ostern gibt es dann die «Colomba» (Taube), das frühlingshafte Gegenstück zum winterlichen Panettone. Auch sie darf im Sortiment der Panetteria von Luca Poncini natürlich nicht fehlen. Er gilt heute als einer der ganz grossen Panettone-Tüftler der Schweiz. Der Tessiner hat rund zwanzig Varianten ergänzend zum «Classico» mit den Rosinen und kandierten Früchten kreiert: mit Aprikosen, Maronen, Kirschen, Zwetschgen, Mandeln, Hasel- und Baumnüsse, Marzipan oder auch Schokolade. Und er probiert immer wieder neue Kombinationen aus. Da erstaunt es nicht, dass Poncini bei der «Swiss Bakery Trophy», an der die jeweils besten Produkten aus Schweizer Bäckereien ausgezeichnet werden, regelmässig abräumt. In seinem kleinen Geschäft in Maggia zeugen zahlreiche Trophäen von seinem Können.

Plötzlich wird es in der Backstube hektisch. Die Gestelle werden zu den Öfen geschoben, mehrere Mitarbeitende eilen herbei. Es muss schnell gehen, denn auch nach Beendigung des Backvorgangs brauchen die Panettoni noch eine spezielle Zuwendung: Damit sie ihre typische Form behalten und nicht in sich zusammenfallen, müssen sie sofort an eigens dafür konstruierten Gestellen über Kopf aufgehängt werden bis sie vollständig erkaltet sind. Auch Poncinis Frau Silvia ist in die Backstube gekommen, in der sich nun ein unglaublicher Duft breit gemacht hat. Die gebürtige Westschweizerin kümmert sich sonst vor allem um den Online-Verkauf und den Laden. Dort landen die eben frisch gebackenen Panettoni aber noch lange nicht: «Anders als beim Brot, das möglichst frisch sein muss, sollte man einen Panettone nicht sofort essen. Richtig gut ist er erst am vierten Tag nach dem Backen», erklärt Silvia Poncini.

So gesehen dauert das Prozedere für einen Panettone etwa eine Woche. Wird ein solcher Aufwand auch bei den industriell hergestellten Kuchen betrieben? «Nein, natürlich nicht. Da ist alles automatisiert und man spart bei der Butter und den Zutaten», sagt Luca Poncini und präzisiert: «Es braucht die Hände, um zu fühlen und zu testen. Ich probiere auch täglich den Teig. Da merke ich die kleinste Abweichung; etwa im Sommer, wenn es mal viel zu warm ist.» Dann lächelt er: «Ohne Leidenschaft geht das nicht.»

www.panetteria-poncini.ch

Der Artiekl ist auch erschienen im «Beobachter»

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