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Weihnachten – mit Distanz zur Religion

Der Anteil der Nichtchristen an der Schweizer Bevölkerung nimmt stetig zu. Welchen Einfluss hat diese Entwicklung auf die Schule? Darf Weihnachten in der Schulstube noch stattfinden? Wo liegen die Grenzen zwischen Brauchtumspflege und religiöser Beeinflussung?

Von Vera Bueller / 1. Dezember 2021

«Als Kind habe ich in der Schule von den drei Königen aus dem Morgenland den Balthasar gespielt», erinnert sich Önder Günes und lacht: Das habe bei ihm kein Trauma ausgelöst. Er könne noch heute die ersten Zeilen seines Textes auswendig. Önder Günes ist der Mediensprecher der Föderation islamischer Dachorganisationen der Schweiz (FIDS). Eine Freistellung muslimischer Kinder vom Schulunterricht, wenn Weihnachtslieder gesungen, Krippenspiele aufgeführt oder Adventsdekorationen gebastelt werden, hält er für die Integration kontraproduktiv. Wichtig sei aber, «dass den Kindern dabei interreligiöse Kompetenz vermittelt wird, sie gegenseitig von den jeweils anderen Religionen lernen». Und es brauche Augenmass. «Wenn die Kinder Lieder singen müssen, deren Inhalt dem eigenen Glaubensgrundsatz widerspricht, dann wäre es angebracht, ihnen zu erlauben, diese Passagen nicht mitsingen zu müssen.» Erfahrungsgemäss variiere der Umgang mit Weihnachtsritualen in der Schule je nach Lehrperson.

Eine gläubige Christin geht damit gewiss anders um als ein atheistischer Lehrer. Ein solcher ist Valentin Abgottspon. Der Walliser Lehrer und Vater von zwei Kindern hatte sich 2010 geweigert, in seinem Schulzimmer ein Kruzifix aufzuhängen. Der Verfechter einer konsequenten Trennung von Staat und Religion – auch im Schulzimmer – bekam deswegen die fristlose Kündigung. Er stört sich daran, dass es immer noch Kantone gibt, in denen konfessioneller Religionsunterricht zum obligatorischen Schulstoff gehört.

Jedes Jahr ein neuer Dispensantrag

So muss Manuela Gsponer, die ihre zwei Kinder humanistisch und ohne Religionsbezug erzieht, jedes Jahr einen neuen Dispensantrag für den katholischen Religionsunterricht in Brig (VS) stellen. «Dennoch kam es vor, dass einer meiner Buben einfach in die Kirche mitgenommen wurde», sagt sie. Er habe dies gewollt, hiess es seitens der Lehrerin. «Klar, dass die Kinder einem sozialen Druck ausgesetzt sind. Christliche Rituale wie der Umzug des Heiligen Martin, die Kommunion oder die Firmung werden hier immer noch über die Schule organisiert», erklärt die Kommunikationsberaterin und Ethikerin. Sich der örtlichen Religionskultur entziehen zu wollen, stosse manchmal auf Unverständnis.
Viele religionsfreie Eltern suchen deshalb Rat bei Valentin Abgottspon, der auch Vizepräsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz (FVS) ist: «Gerade in kleinräumigen, christlich geprägten Gebieten – wie etwa im “Vatikanton” Wallis – ist es heikel, sich direkt bei der Schulleitung zu beschweren. Das bekommen dann unter Umständen die Kinder zu spüren. Da können wir von der Vereinigung anonymisiert und deeskalierend eingreifen.» Grundsätzlich sei es aber so, dass es viele Kantone und Schulen gebe, die mit dem Thema Weihnachten feinfühlig umgingen, vor allem im städtischen Umfeld. Der Freidenker plädiert dafür, mit Kindern offen und ehrlich über Religionen und Weltanschauungen zu sprechen. Weihnachtliche Rituale könnten auch weltlich und gemeinschaftsstiftend gestaltete werden – ohne Krippen, Krippenspiel und einem religiös geprägten Liedgut.

Lehrplan21 setzt Leitplanken

Der Lehrplan21 hat dazu eigentlich schon die Leitplanken gesetzt, indem der Religionsunterricht heute Bestandteil des obligatorischen Schulfachs «Natur, Mensch, Gesellschaft» und konfessionsneutral sein soll. Ziel ist es, Grundwissen über die verschiedenen Weltreligionen zu vermitteln und ethische Fragen zu behandeln. Die Neutralität ist dabei wichtig, denn immer mehr Personen verlassen in der Schweiz ihre Kirchen und religiösen Gemeinschaften. Fast 30 Prozent bezeichnen sich inzwischen als religionsfrei – Tendenz steigend, wie die jüngste Erhebung des Bundesamtes für Statistik zeigt.

In dieser zunehmend säkularisierten Gesellschaft verschwinden mit jeder Generation die sakralen Inhalte zur Weihnachtszeit ein bisschen mehr. Die Frage, ob die Schule darauf und auf die unterschiedlichen religiösen Überzeugungen ihrer Schüler Rücksicht nehmen soll, beantwortet in der Schweiz die Bundesverfassung, in der die Glaubens- und Gewissensfreiheit garantiert ist. Diskutieren kann man nur die Frage, wie weit diese Rücksichtnahme zu gehen hat. Für Franziska Peterhans, Zentralsekretärin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), «sollte heute Weihnachten ein Anlass sein, um einen Blick in die Welt zu werfen, ein Anstoss für Gespräche über Traditionen und andere Religionen.» Es gebe in den Schulen grosse Unterschiede, vor allem variiere die Handhabung je nach Region. «Im Kanton Baselstadt ist es ganz anders als in Gegenden, die stark katholisch geprägt sind.»

Unterschiedliche Schulhauskultur

Beatrice Kümin Rüegg, Dozentin für Religionen, Kulturen, Ethik der Pädagogischen Hochschule Zürich spricht von unterschiedlichen Schulhauskulturen. «Ihnen zugrunde liegen sollte aber stets der Auftrag, über verschiedene religiöse Traditionen und Weltanschauungen zu lernen und den Kindern deren kulturelle und historische Hintergründe zu vermitteln.» Dabei warnt sie davor, Kinder in der Klasse als Experten hinzuzuziehen, etwa mit der Frage «Wie ist das bei euch an Weihnachten, mit dem Samichlaus und der Adventszeit.» Damit würden die Kinder exponiert und in eine Rolle gedrängt oder ausgeschlossen. Besser wäre es, die Adventszeit zu nutzen, um die eigenen Rituale mit anderen Kulturen zu vernetzen, regt Lucia Amberg an, Studiengangleiterin Kindergarten/Unterstufe an der Pädagogischen Hochschule Luzern: «Zum hinduistischen Lichterfest Diwali im November könnte beispielsweise auch im Schulalltag ein entsprechender Bezug geschaffen werden. Das Diwali-Fest ist schliesslich eines der beliebtesten im Hinduismus und so etwas wie das indische Weihnachten.» Mit dieser Vernetzungs-Idee kann Manuela Gsponer wenig anfangen: «Klar, der Mensch braucht Rituale. Aber sie müssen doch nicht zwingend mit einer Religion zusammenhängen.»

Die Berücksichtigung von immer mehr Ritualen der unterschiedlichsten Religionen in der Schule führt oft auch zum Vorwurf, ob all der Andersgläubigen in der Schweiz sei es gar nicht mehr möglich, traditionell Weihnachten zu feiern. Diesbezüglich hat Simon Spengler allerdings andere Erfahrungen gemacht. Der Kommunikationschef der Katholischen Kirche im Kanton Zürich betont, dass «Reklamationen wegen christlicher Rituale an den Schulen in der Regel nicht von Muslimen oder anderen Andersgläubigen kommen, sondern von konfessionsfreien Schweizern und deutschsprachigen Ausländern.» Schliesslich sei Jesus auch für Muslime ein Prophet und die meisten Bräuche wie etwa der Weihnachtsbaum hätten eh einen heidnischen Ursprung. Auch hätten «das Jingle-bell-Trällern in den Shoppingcentern, der blöde Elch und der Weihnachtsmann nichts mit dem christlichen Weihnachtsfest zu tun.»

Auf keinen Fall missionieren

Im Religionsunterricht sollten die Schülerinnen und Schüler einerseits die christliche Religion als Teil unserer Geschichte, Kultur und Gegenwart kennenlernen, «aber ebenso auch andere Religionen, die bei uns präsent sind. Dies ist heute eine Selbstverständlichkeit», meint Simon Spengler. Man solle dabei auf keinen Fall missionieren, sondern Wissen über die Religionen und die Grundlagen zentraler Werte vermitteln, die unser gesellschaftliches Zusammenleben prägen. Simon Spengler ist überzeugt, dass auch heute noch in der Adventszeit «eine weihnachtlich geprägte Grundstimmung bei den Menschen vorhanden ist: Der Wunsch nach Frieden, Geborgenheit, Besinnung und Gemeinschaft. Das belegt allein schon die Spendenfreudigkeit in der Weihnachtszeit.»

Was Wunder, hat selbst Valentin Abgottspon einen feierlich geschmückten Weihnachtsbaum bei sich zu Hause. «Im Umgang mit solch heidnischen Symbolen und Ritualen bin ich relaxed. Man muss auch nicht alles streichen, was einen religiösen Hintergrund hat.» Es gebe gar Lieder, die heute zum allgemeinen Kulturgut, zur Poesie und zur Philosophie gehörten. «Ich denke dabei an Leonard Cohens Hallelujah.»

Der Artikel ist auch erschienen im «Beobachter»

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