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Das Dilemma an der Grenze

Mehr Flüchtlinge versuchen einzureisen, aus Deutschland kommt Druck, und die Grenzwächter beklagen Überlastung: Im Tessin rumort es.

Von Vera Bueller / 12. Mai 2017

Es ist Nacht geworden im Südtessin. Eine mit Infrarotkamera ausgerüstete Drohne der Schweizer Luftwaffe steigt auf und kreist während Stunden über den Grenzdörfern; sie blinkt, brummt, macht Lärm. An Schlafen ist selbst im hintersten Winkel des romantischen Muggiotals nicht zu denken. Tagsüber nervt dann ein Super Puma und auf den Strassen sind die Fahrzeuge des Grenzwachtkorps omnipräsent: Es gilt, illegal eingereist Flüchtlinge aufzuspüren. Viele denken da an halbwüchsige Männer dunkler Hautfarbe, in bunte Tücher gehüllte Mütter mit ihren Babys und Kleinkindern, die durch ein Loch im Grenzzaun robben um sich im Wald zu verstecken, wo sie schliesslich von Wärmekameras aufgespürt und von Grenzwächtern gejagt werden.

Sie kommen «ganz normal» per Bahn

Die Realität ist eine andere: Flüchtlinge lösen ein Billett in Mailand oder Como und reisen bequem mit der SBB oder einem Bus in die Schweiz, vereinzelt auch in einem privaten Auto. Die Grenzwächter picken heraus, wer ihnen verdächtig erscheint und führen sie ab zur Registrierung. Der Anteil jener, die mit Schleppern über die grüne Grenze ins Tessin schleichen und erwischt werden, ist verschwindend klein, etwa ein Prozent. Auch für die Bevölkerung sind nicht die Flüchtlinge das Hauptproblem an der Grenze. Die Einheimischen ärgern sich vielmehr über das tägliche Verkehrschaos wegen der vielen italienischen Grenzgänger. Und sie haben Angst vor den Kriminellen aus Italien, die regelmässig Tankstellen überfallen, in Häuser einbrechen und dann zurück über die Grenze flüchten.

Tatsache ist aber auch, dass weit mehr Flüchtlinge an der Südgrenze der Schweiz ankommen als noch vor einem Jahr: Zehnmal mehr Migranten wurden in den ersten drei Monaten nach Italien zurückgeschafft als in der gleichen Periode 2016. Offiziell wurden rund 60 «rechtswidrige Aufenthalter» pro Tag angehalten – inoffiziell spricht man im Grenzwachtkorps allerdings von einer dreimal höheren Zahl. Doch die Vergleiche mit den Statistiken früherer Jahre hinken so oder so, weil damals weniger streng kontrolliert wurde. Die schärfere Gangart begann erst im letzten Sommer, als mit der konsequenten Schliessung der Balkanroute plötzlich Tausende von Flüchtlingen aus Eritrea, Syrien, Guinea, Afghanistan, Irak und Nigeria an der Südgrenze ankamen.

Die Verhältnisse seien damals chaotisch gewesen, verrät einer der Grenzwächter, der anonym bleiben möchte. Es sei halt alles wegen des riesigen Ansturms zu viel gewesen: «Die Feststellung der Identität, der Herkunft, des Alters, die Leibesvisitationen, das Abnehmen der Fingerabdrücke. Viele Flüchtlinge haben kein Wort gesprochen und hatten keine oder gefälschte Ausweispapiere. Wir wussten nicht, ob sie minderjährig sind und entsprechend speziell behandelt werden müssen.» Es seien zwar Kollegen aus der übrigen Schweiz zur Verstärkung ins Tessin gekommen, aber immer nur für zehn Tage. «Das war ein Kommen und Gehen. Kaum war jemand so richtig eingearbeitet, war er schon wieder weg.» In diesem Sommer sollen die «Zuzüger» wenigstens ein bis drei Monate bleiben. Und es wird ihnen auch eine Wohnung zur Verfügung gestellt, zwecks «Familiennachzug». Wie viele Grenzschützer letztes Jahr auf «freiwilliger Basis» abkommandiert wurden und wie viele dieses Jahr erneut ins Tessin geschickt werden, ist «aus einsatztaktischen Gründen» ein Amtsgeheimnis, sagt man auf Anfrage bei der Eidgenössischen Zollverwaltung (EZV) in Bern.

Das offizielle Bern will auch nicht preisgeben, ob den Tessiner Grenzwächtern das gleiche Schicksal droht wie letzten Sommer: «Für drei Monate wurden die Ferien, sämtliche Weiterbildungskurse und Büroaufenthalte gestrichen – es mussten alle an die Front», erzählt Roberto Messina, der Präsident der Tessiner Sektion der Zoll- und Grenzwachtgewerkschaft Garanto. Er glaubt, dass sich die Situation an der Grenze dank der Erfahrungen aus dem letzten Jahr und der darauf getroffenen Massnahmen bei der Registrierung und Aufnahme zwar verbessert habe. Aber Ferien werde es wohl auch in diesem Sommer keine geben. Zumal in den ersten drei Monaten bereits 33 Prozent mehr Bootsflüchtlinge (24’000) als in der gleichen Periode des Vorjahres von Libyen nach Italien übergesetzt sind. Viele von ihnen suchen den Weg via Schweiz in den Norden der EU. Sie wollen gar keinen Asylantrag in der Schweiz stellen, sondern nur durchreisen.

Grenzwächter Carlo M.* hat es im letzten Jahr hautnah erlebt, und ihm graut vor dem Sommer. Der Vater von drei Kindern im schulpflichtigen Alter wollte mit seiner Familie für ein paar Wochen ans Meer fahren, nachdem es im letzten Jahr nicht möglich war. «Ich habe es meinen Söhnen noch nicht zu sagen getraut, dass es wohl wieder nicht klappt. Wenn sich das nun über Jahre wiederholt, werde ich mir einen neuen Job suchen müssen.» Aber nicht nur wegen der Ferien. Das Arbeitsvolumen nehme zu, die Arbeitszeiten seien unregelmässig, es kursierten Gerüchte, dass die Politiker in Bern aus Spargründen Stellen streichen wollten, eine Nulllohnrunde stehe an, der Lohnanstieg sei halbiert worden, ein höheres Pensionierungsalter drohe.

Grenzwächter mit Gewissensbissen

«Die Stimmung beim Personal ist am Boden», bestätigt Roberto Messina. Das Grenzwachtkorps brauche unbedingt mehr Personal, denn wenn plötzlich alle im Tessin gebraucht würden, fehle die Grenzwacht andernorts – etwa am Zoll in Basel, wo als Folge der erhöhten Terrorgefahr hohe Alarmbereitschaft und Verunsicherung herrsche. Und es brauche ein längerfristig angelegtes Rotationsverfahren mit den Kollegen aus der übrigen Schweiz, damit diese nicht nur in Krisenzeiten ins Tessin verlagert würden. Denn auch die permanente emotionale Belastung sei enorm: «Da kommen Frauen, Kinder und Jugendliche, die oft Fürchterliches durchgemacht haben. Sie wieder nach Italien zurückschicken zu müssen, das geht einem schon nahe. Ich denke dann an meine Familie: Wie wäre es, wenn wir flüchten müssten?», gibt Carlo M. zu bedenken. Auch Roberto Messina belastet es, dass zwischen politisch Verfolgten und so genannten Wirtschaftsflüchtlingen unterschieden wird: «Ich bin Christ und da frage ich mich, ob nicht auch jemand, der vor dem Hungertod flüchtet, ein Recht auf Aufnahme hätte.» Aber darüber entscheiden andere.

Auch die Kritik von Menschenrechtsaktivisten, Amnesty International und Medien tragen nicht zur Stimmungsaufhellung beim Grenzwachtkorps bei. Zum Beispiel: Die Grenzwächter würden minderjährige Kinder bei Nacht und Nebel in Italien auf die Strasse setzen. Es gab deshalb gar Untersuchungen des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge, das allerdings keinerlei Verstösse feststellen konnte. «Egal ob jung oder alt, wenn wir abends Flüchtlinge aufgreifen, kommen sie für eine Nacht nach Rancate, in der Nähe von Chiasso, wo sie in einem letzten Sommer errichteten Übergangslager untergebracht und verpflegt werden, wo sie auch duschen können. Am nächsten Tag fahren wir sie dann nach Italien und übergeben sie den italienischen Kollegen – es sei denn, sie beantragen in der Schweiz Asyl», erklärt Carlo M. Den Transport und die Versorgung mache das Grenzwachtkorps, «weil sich Bund und Kanton wegen der Kosten für zusätzliches Personal streiten».

Der deutsche Wahlkampf hallt nach

Zu all den Belastungen neu dazugekommen ist der Druck, der plötzlich aus Deutschland kommt. Denn dort stehen Wahlen an. Und so fordern diverse Politiker stärkere Kontrollen an der Südgrenze der Schweiz, damit weniger Flüchtlinge im Norden ankommen. In den ersten drei Monaten dieses Jahres wurden nämlich in Deutschland 1880 illegale Aufenthalter aufgegriffen, die angeblich aus der Schweiz kamen. Das waren 237,5 Prozent mehr als zur gleichen Zeit des Vorjahres. Doch auch hier hinkt der Vergleich, weil Deutschland die Kontrollen inzwischen massiv verschärft hat. Gegen den Druck aus dem Norden wehren sich die Tessiner und verweisen auf ihr Dispositiv, das sie streng befolgten: Diejenigen Flüchtlinge, die in der Schweiz um Asyl bitten, werden ausnahmslos dem Empfangs- und Verfahrenszentrum des Staatssekretariats für Migration übergeben. Alle anderen, und das sind die meisten, übergibt das Grenzwachtkorps gestützt auf ein Rahmenabkommen konsequent an die italienischen Behörden. Kurz darauf versuchen sie allerdings erneut in die Schweiz zu kommen; sie hoffen, nicht herausgepickt zu werden etwa im Eurocity ohne Halt in Chiasso… Aber auch von denjenigen, die einen Asylantrag in der Schweiz gestellt haben, tauchen manche unter und in Deutschland wieder auf. Das dürften allerdings nur wenige sein, denn Deutschland konnte in diesem Jahr nur gerade 71 in der Schweiz registrierte Personen zurückschicken.

Es bleibt also das Rätsel, warum Deutschland von Januar bis März 1809 illegal aus der Schweiz Eingereiste feststellt, obwohl die Tessiner Grenzwächter bis zur Erschöpfung unerlaubte Grenzübertritte verhindern und Illegale nach Italien zurückschaffen. Vielleicht ist die Antwort von David Marquis von der EZV des Rätsels Lösung: «Gemäss Schengener Grenzkodex sind der Schweiz keine systematischen Grenzkontrollen erlaubt, weshalb unerlaubte Durchreisen nicht ausgeschlossen werden können.»

*Name geändert

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