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Der Mann auf dem Weg zur Langlebigkeit
Neugeborene Buben haben in der Schweiz eine Lebenserwartung von 81,6 Jahren, Mädchen überleben sie um fast vier Jahre. Doch die Männer haben das Potenzial, die Lücke zu verringern. Denn Männer sind nicht ganz unschuldig daran, dass sie früher sterben.
Von Vera Bueller / 1. Januar 2024
«Wenn das Thema “Männerarzt” zur Sprache kommt, macht sich meist Heiterkeit breit; es wird gewitzelt und gespottet», hat Manuela Birrer, Fachärztin für Innere Medizin und Angiologie am Kantonsspital Baden, beobachtet. «Zu Unrecht. Denn Männergesundheit geht weit über das Thema Erektionsstörungen hinaus.» Vor sechs Jahren hat sie deshalb die «Männersprechstunde» am Kantonsspital Baden ins Leben gerufen, wo der Mann sich individuell beraten lassen kann – betreut von Urologen, Endokrinologen, Gefässmedizinern und Psychologen. Die Medizinerin ist überzeugt, dass eine geschlechtsspezifische Behandlung und Prävention notwendig sind, um die Lebenserwartung der Männer im 21. Jahrhundert an die der Frauen anzugleichen. Denn Tatsache ist, dass Männer in der westlichen Welt im Durchschnitt sechs bis sieben Jahre früher sterben als Frauen – in der Schweiz sind es rund 4 Jahre. Krebs, Übergewicht, Rauchen, Alkoholkonsum und Bewegungsmangel sind bei ihnen häufiger. Ausserdem gehen sie seltener, manchmal sogar zu spät zum Arzt.
Männliche Ersatzteilmentalität
Das Problem beginne schon damit, «dass Männer eine Ersatzteilmentalität haben: Wenn etwas kaputt geht, wird es einfach ersetzt», sagt Manuela Birrer. Klar, dass dieser Ansatz in der Medizin an Grenzen stosse. Es brauche vor allem Vorsorge, um die «Ersatzteile» am Leben zu halten. «Doch Männer sind oft Prophylaxe-Muffel». Dieses Verhalten sei teils noch in überholten Rollenbildern verwurzelt, nach dem Motto: «Das starke Geschlecht kennt keinen Schmerz, ist tapfer und heldenhaft.» Allerdings wandle sich das Bild des Mannseins zunehmend: «Wer hätte vor ein paar Jahren gedacht, dass Männer Tagescreme benutzen», scherzt die Ärztin.
In ihrer Sprechstunde legt Manuela Birrer besonderen Wert darauf, realistische Ziele zu definieren und die individuellen Vorlieben ihrer Patienten zu verstehen, um darauf aufbauend massgeschneiderte Methoden zu entwickeln. «Ich habe die Erfahrung gemacht, dass technische Hilfsmittel – etwa zur Gewichtsreduktion – bei Männern sehr effektiv sein können, zum Beispiel Schrittzähler, die den Fortschritt durch Kurvendiagramme sichtbar machen», erklärt sie.
Life-Style-Faktoren sind entscheidend
Und sie weiss: «Die Lebenserwartung der Männer wird massgeblich von Life-Style-Faktoren beeinflusst.» Sie rauchen häufiger, konsumieren mehr Alkohol und Drogen, verhalten sich gewalttätiger und sind risikofreudiger im Sport und im Strassenverkehr. Ihre Ernährungsgewohnheiten sind oft ungesund, weshalb sie auch häufiger an Übergewicht leiden – dies sind einige der Ergebnisse der letzten Schweizerischen Gesundheitsbefragung. Auch sogenannt externen Todesursachen wie Suizid, Tötungsdelikten und Vergiftungen sind Männer stärker ausgesetzt als Frauen.
Nun liegt es nahe, die kürzere Lebenserwartung der Männer als selbstverschuldet abzutun, weil sie weniger auf sich achten. Doch neue Studien zeigen: Auch Ärzte erkennen Symptome bei Männern oft zu spät oder gar nicht. So diagnostizieren sie bei Frauen häufiger psychische Erkrankungen als bei Männern. Die Studienautoren vermuten, dass männliche Ausprägungen psychischer Probleme wie Aggressivität oder erhöhter Alkoholkonsum von Ärzten oft nicht als solche erkannt werden – denn männliche Patienten kommunizierten ihre Beschwerden zögerlicher als Frauen. Diese redeten offener über Symptome und gäben Schwächen eher zu.
Auch die berufliche Situation vieler Männer hat Einfluss. Sie arbeiten öfter in Jobs mit einem höheren Unfall- und Krankheitsrisiko. Demgegenüber sind Frauen eher in psychisch belastenden Bereichen wie Erziehung oder Gesundheit tätig. Gesellschaftliche Erwartungen wie Karrieredruck und – je nach Situation – auch noch die traditionelle Rolle des Alleinverdieners verursachen bei Männern zusätzlichen Stress. Dieser Stress und ein ungesunder Lebensstil führen zu einem Anstieg von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in jungen Jahren. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sterben Männer zwischen 35 und 65 Jahren fünfmal häufiger an Herz-Kreislauf-Erkrankungen als Frauen. Entscheidend ist dabei allerdings der soziale Status des Einzelnen: Ein niedriges Bildungsniveau und finanzielle Probleme wirken sich vor allem bei Männern lebensverkürzend aus. In vielen Ländern führen soziale Unterschiede zu einer um 8 bis 12 Jahre geringeren Lebenserwartung, ist das Ergebnis zahlreicher Studien.
Genetische Faktoren von geringer Bedeutung
Doch es gibt auch genetische Faktoren. Hier sind Frauen im Vorteil, weil sie zwei X-Chromosomen besitzen. Das bedeutet, dass sie im Falle eines genetischen Defekts auf einem Chromosom über eine «Sicherheitskopie» auf dem anderen verfügen. Im Gegensatz dazu haben Männer ein X- und ein Y-Chromosom, die jeweils nur einmal vorhanden sind. Bereits 1963 entdeckten britische Forscher, dass das spezifisch männliche Y-Chromosom bei vielen Männern mit zunehmendem Alter aus den Zellen verschwindet. Aktuelle Ergebnisse einer Studie der University of Virginia deuten nun darauf hin, dass dieser Verlust des Y-Chromosoms den Alterungsprozess beschleunigt und eine Empfindlichkeit für altersbedingte Krankheiten, insbesondere Herzschäden, schafft.
Dass die unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen aber kein genetisch bedingtes Naturgesetz ist, belegen Untersuchungen in zahlreichen Klöstern in Deutschland und Österreich: Unter ähnlichen Lebensbedingungen haben demnach Mönche und Nonnen eine nahezu identische Lebenserwartung. Der genetische Vorteil der Frauen macht sich nur in ein bis maximal zwei Jahren längerer Lebenserwartung bemerkbar. Der grössere Unterschied lässt sich somit weitgehend auf kulturelle und soziale Faktoren zurückführen.
Unterschiede je nach Umfeld und Land
Und hier kommt das Umfeld ins Spiel, in dem Mann lebt: Eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (BiB) und der ETH-Lausanne stellte bei der Lebenserwartung grosse regionale Unterschiede fest. «Attraktive Metropolen mit Karrierechancen ziehen eine gesündere Bevölkerung an», erklärt Markus Sauerberg vom BiB. Strukturschwache Regionen hätten das Nachsehen. Dieses Ergebnis basiert auf einer beispiellosen Studie, in der Forscher detaillierte Daten zu Todesursachen aus 228 Regionen in sieben europäischen Ländern analysiert haben. Auffallend geringe Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen Männern und Frauen wurden in Süddeutschland, Dänemark und der Schweiz festgestellt. Am besten schnitt die Nordwestschweiz mit Basel und Umgebung mit 3,3 Jahren ab, dicht gefolgt von München und Umgebung mit 3,5 Jahren.
Im Gegensatz dazu gab es einige Regionen in Ostdeutschland, Tschechien, der Slowakei und Frankreich, in denen der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den Geschlechtern sechs Jahre und mehr betrug. Dies könnte vor allem auch an unterschiedlich effektiven Gesundheitssystemen und Prävention liegen, so die Forscher.
Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Lebenserwartung bei Geburt in der Schweiz gegenwärtig die höchste der Welt ist: Sie beträgt für Männer 81,6 Jahre und für Frauen 85,4 Jahre. Ein heute 30-jähriger Mann hat statistisch gesehen noch 52,4 Jahre vor sich, eine gleichaltrige Frau 55,9 Jahre. Im Alter von 65 Jahren beträgt die erwartete Lebenserwartung aktuell für Männer noch 19,8 Jahre und für Frauen 22,5 Jahre. Setzt sich dieser Trend fort, können die im Jahr 2017 geborenen Männer und Frauen laut Prognosen ein Durchschnittsalter von 91 respektive 94 Jahren erreichen.
Mann und Frau nähern sich an
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Lebenserwartung in der Schweiz noch unter 50 Jahren, auch wegen der hohen Säuglingssterblichkeit. Der Anstieg seither ist medizinischen und technischen Fortschritten zu verdanken – in jüngster Zeit verlangsamt er sich allerdings. Vor allem nähern sich die Lebenserwartungen von Mann und Frau an. Dies hängt mit geänderten Lebensstilen zusammen. Frauen übernehmen mehr «männliche» Verhaltensweisen. Sie rauchen mehr, arbeiten häufiger, trinken mehr Alkohol und betreiben riskantere Sportarten. Bei Männern wurde die Arbeit sicherer. Auch konsumieren sie weniger Tabak und Alkohol, ernähren sich gesünder und bewegen sich mehr. Diese Veränderungen tragen dazu bei, dass Männer bei der Lebenserwartung langsam aufholen, wodurch ihr Zugewinn an Lebensjahren schon seit mehr als vierzig Geburtsjahrgängen den der Frauen übertrifft.
Der Artikel ist auch erschienen im «Beobachter»