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«Die ganze Gesellschaft hat Schlafentzug»
Entscheidend für einen guten Schlaf ist die innere Uhr und der darauf abgestimmte Schlafrhythmus. Doch in der hektischen Welt von heute ist es kaum noch möglich, im Einklang mit der inneren Uhr zu leben. Das hat Konsequenzen.
Von Vera Bueller / 11. Oktober 2019
Tief verschneite Wälder, tanzende Nordlichter am Himmel, viel Ruhe und Dunkelheit – in den Wintermonaten geht die Sonne in den Regionen am Polarkreis nie richtig auf. Im Sommer hingegen wird die Nacht zum Tag – lebendige Küstenstädtchen, sonnenbaden rund um die Uhr, endlose Tage. Das bringt den Schlaf-Wach-Rhythmus der Bewohner und Bewohnerinnen nachhaltig durcheinander, selbst die Rentiere fallen im dunklen arktischen Winter und während der Monate der Mitternachtssonne beim Schlafen, Fressen und bei ihren Schaukämpfen aus dem 24-Stunden-Takt.
Doch auch in unseren Breitengraden gilt: Wer über längere Zeit dem natürlichen Tag-Nacht-Rhythmus entgegenwirkt, riskiert ernsthafte gesundheitliche Probleme. Die Folgen können Depressionen, Appetitlosigkeit, Störungen des Magen-Darm-Traktes, Herz-Kreislauferkrankungen sowie Schlafstörungen sein. Egal, ob Mensch oder Tier «die Verschiebung der inneren Uhr bedeutet immer Stress für den Körper», sagt Jens G. Acker, Chefarzt der Klinik für Schlafmedizin Bad Zurzach.
Eigentlich im 25- statt 24-Stunden-Takt
Verantwortlich dafür sind die biologischen Rhythmen, die Abläufe im Körper, die sich täglich wiederholen. Sie folgen dem gleichbleibenden Takt der inneren Uhr. Dieser hätte allerdings nicht 24, sondern 25 Stunden, liesse man die Uhr einfach laufen. Das konnten Wissenschafter feststellen, indem sie freiwillige Testpersonen beobachteten, die für längere Zeit in einem lichtlosen Bunker ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt eingeschlossen waren. Doch die Sonne sorgt dafür, dass der interne Zeitmesser der Menschen mit dem 24-Stunden-Takt einer Erdumdrehung gleichgeschaltet wird: «Das Licht gibt der Uhr den Impuls, die zur Tageszeit passenden Körpervorgänge in Gang zu setzen. Die innere Uhr bestimmt somit, was unser Körper und unser Gehirn wann macht. So lässt sie nachts den Blutdruck sinken, den Atem flacher werden und die nächtlichen Reparatur- und Erholungsprogramme starten. Deshalb sind Körper und Geist nachts nur schlecht dazu zu bewegen, zu arbeiten», präzisiert der Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Den absoluten Tiefpunkt erreiche unsere Leistungskurve zwischen drei und vier Uhr nachts. Von zehn bis 12 Uhr sowie gegen fünf Uhr nachmittags seien die meisten Menschen am produktivsten.
Unter den Menschen gibt es allerdings sogenannte Lerchen und Eulen. Die einen sind früh morgens topfit, wogegen die Zeit der Eulen erst am Abend so richtig beginnt. «Ob wir Eulen oder Lerchen sind, ist genetisch festgelegt und entzieht sich weitgehend unserem Einfluss. Aus einer Lerche kann man keine Eule machen und auch nicht umgekehrt», sagt Jens G. Acker. Man könne zwar den Schlaf-Wachrhythmus um ein, zwei Stunden auf Dauer verschieben, aber mehr gehe nicht. «Reisende mit Jetlag spüren das ebenso wie Schichtarbeiter. Das macht die Nachtarbeit so ungesund. Und 20 Prozent der Bevölkerung arbeiten in der Schweiz zu atypischen Zeiten.
Fremdbestimmter Schlafrhythmus
Es gibt Tests, mit denen man den Melatonin-Spiegel, das heisst die Schlafhormonkonzentration im Blut erfassen kann. Und es wird daran geforscht, ob sich die Eulen-Lerchen-Veranlagung aufgrund eines DNS-Nachweises feststellen lässt. Für die Wissenschaft ist das zwar interessant, dem Schlafspezialisten als Praktiker bringt das aber nicht viel, weil der Schlaf-Rhythmus grösstenteils fremdbestimmt ist: «Was nützt es mir zu wissen, dass ich eine Eule bin, aber täglich um acht Uhr morgens am Arbeitsplatz oder in der Schule sein muss? In Mitteleuropa werden die meisten Leute ohne Wecker gar nicht wach.» Etwa zwei Drittel der Bevölkerung würden entsprechend ihrer inneren Uhr lieber später ins Bett gehen, als sich das mit unseren gesellschaftlichen Zeiten vertrage. «Über Wochen und Monaten entsteht so eine chronische Übermüdung. Oder anders ausgedrückt: Die ganze Gesellschaft hat Schlafentzug und ist in ihrer geistigen Leistungsfähigkeit eingeschränkt.»
Jens G. Acker empfiehlt, wenigstens während der Ferien einfach die innere Uhr bestimmen zu lassen: «Keinen Wecker stellen, sich auch nicht wegen des Frühstückbuffets im Hotel stressen lassen – einfach nur ausschlafen. Dann pendelt sich die innere Uhr ein.» Nur sonntags auszuschlafen, genüge dafür nicht. Doch wenn man dann tatsächlich lange ausschlafen könne, sei dies ein Indiz für Schlafmangel.
Die Bewohner und Bewohnerinnen Mitteleuropas schlafen durchschnittlich sieben Stunden pro Nacht. Doch der Schlafbedarf ändert sich im Laufe des Lebens. So sind Kleinkinder oder Kranke ausgeprägte Langschläfer. Während ältere Personen immer «lerchiger» werden.
Keine Frage, die meisten Menschen können ihr Leben nicht optimal der inneren Uhr folgend einrichten. «Aber eine Verbesserung ist immer möglich», sagt der Schlafmediziner. Das fange beim Verständnis an, was ein zeitgebender Rhythmus bedeute: Wie ist mein Tag strukturiert, wie viel Zeit nehme ich mir fürs Essen, für soziale Kontakte, für Tätigkeiten im Freien, wie lasse ich den Tag ausklingen? Er empfiehlt, eine Stunde vor dem Schlafengehen bewusst eine elektronikfreie unaufgeregte Zeit einzuschalten. Der inneren Uhr würden auch Rituale gefallen, also vor dem Zubettgehen jeden Abend das Gleiche zu tun. Man schlafe auch besser, wenn man sich tagsüber ausreichend bewegt habe – nach Möglichkeit im Freien bei Tageslicht.
Mini-Jetlag durch Umstellung von Sommer- und Winterzeit
Denn ein wichtiger Faktor im Zusammenspiel des Schlaf- und Wachrhythmus ist der Hell-Dunkel-Zyklus. Fehlt es an Tageslicht, wie etwa im hohen Norden, können Depressionen die Folge sein: «Aber auch in unseren Breitengraden sind wir im Winter kaum natürlichem Licht ausgesetzt. Die Beleuchtung in den Wohnungen, am Arbeitsplatz, im Auto oder dem ÖV reicht nicht aus, um den Mangel an Tageslicht wett zu machen», weiss Jens G. Acker. Vor allem in der Weihnachtszeit komme es deshalb zu depressiven Verstimmungen, wenn man länger schlafe, mehr esse, es sich zu Hause gemütlich mache. «Der Körper reagiert auf solche Veränderungen. Er braucht den zeitgebenden Rhythmus bestehend aus Licht, sozialen Kontakten und angemessener Ernährung.»
So erfährt denn der menschliche Organismus allein schon durch die Umstellung von Winter- auf Sommerzeit und umgekehrt regelmässig eine Art Mini-Jetlag. Es dauert meist zwei bis zehn Tage, bis die innere Uhr sich angepasst hat. Was Wunder warnt Jens G. Acker vor der Einführung der ewigen Sommerzeit: «Die meisten Befürworten haben sich kaum mit den Konsequenzen für den Winter ausgesetzt. Falls die Sommerzeit zum Dauerzustand wird, muss sich die Schweiz auf morgendliche Verhältnisse einstellen, wie sie etwa in Skandinavien herrschen.» Die Leute müssten an deutlich mehr Tagen im Dunklen zur Arbeit und bekämen insgesamt weniger Tageslicht ab. Dann würden wir wie am Polarkreis Cafés, Wohnungen und Arbeitsplätze mit starken, hellen Lampen ausstatten müssen, um die Sonne zu imitieren. Trotzdem hätten wir keine Garantie dafür, dass das genügt, um Winterdepressionen zu vermeiden. Denn wir haben keine faszinierenden Nordlichter wie in den Polarnächten, die die Dunkelheit zum Spektakel machen. Es wäre einfach zappenduster. «Die ewige, also ursprüngliche Winterzeit würde deutlich näher am natürlichen Rhythmus der Menschen liegen und wäre für uns Mitteleuropäer die bessere Wahl», meint Professor Acker.