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Die Welt ist nicht immer so, wie sie ist

Sinnestäuschungen gehören zum Alltag. Einige kommen in der Natur vor, andere werden künstlich erzeugt und auch manipulativ eingesetzt. Dabei zeigt sich, dass jeder Mensch die Welt anders wahrnimmt.

Von Vera Bueller / 1. März 2022

Man sitzt im Zug und wartet auf die Abfahrt. Ein Blick aus dem Fenster und schon geht die Reise weiter. Doch es ist gar nicht der eigene Zug, der sich bewegt, sondern jener auf dem Nebengleis. Das Gehirn bringt zwei widersprüchliche Informationen durcheinander: Die Augen melden «wir fahren» und der Gleichgewichtssinn sagt «wir stehen».

Von derartigen Verwirrungen sind all unsere Sinne betroffen. Hält man beispielsweise eine grosse Muschel ans Ohr, glaubt man, eine Meeresbrandung zu hören. Dabei nimmt man bloss das Rauschen des eigenen Blutes wahr. Oder wenn einem beim Essen ein winziges Stück Zahn abbricht, ertastet die Zunge ein riesiges Loch ? als ob der halbe Zahn weggebrochen wäre.

Falsche Interpretation der Reize

«Bei all diesen Fehlwahrnehmungen interpretieren wir die Reize, die wir mit unseren Sinnen aufnehmen, schlicht falsch», erklärt Georg Felser. Er ist Professor für Wirtschaftspsychologie der Hochschule Harz in Wernigerode und Spezialist für Werbe- und Konsumpsychologie. Es komme deshalb immer wieder zu trügerischen Farb- und Formeindrücken, zu Fehlschlüssen bei Grössenverhältnissen oder verwirrenden räumlichen Zuordnungen. So stimmt etwa die Aussage «Schwarz macht schlank» nur deshalb, weil schwarze Flecken das Licht weniger breit streuen als helle.

Oft sind Sinnestäuschungen eine Folge von Übermüdung oder Überlastung. «Wenn wir alles wahrnehmen könnten, was um uns geschieht, wären wir überfordert», meint Georg Felser. Also nehmen wir automatisch bei der Fülle von Informationen eine Selektion vor und deuten oder interpretieren die Realität. «Unser Wahrnehmungsapparat ist nicht dafür gemacht, die Welt so zu spiegeln, wie sie tatsächlich ist.»

Unterschiedliche Wahrnehmung

Dass die Welt durch unsere Wahrnehmung interpretiert wird, belegen zahlreiche Kippbilder, auf denen man entweder eine junge oder alte Frau, ein Kaninchen oder eine Ente, ein Liebespaar oder einen Schwarm von Delfinen erkennen kann. Was auf unserer Netzhaut ankommt, ist aber immer dasselbe, egal ob wir die alte oder junge Frau sehen. Es ist unser Wahrnehmungsapparat, der dann versucht, daraus etwas Sinnvolles zu machen. Bei manchen Vorlagen kippt diese Deutung aber immer wieder hin und her, ohne sich entscheiden zu können ? von Kaninchen zu Ente und von Ente zu Kaninchen. Unser Hirn greift dabei auf unsere Erfahrungen zurück und ergänzt Unvollständiges: Im Kreis angeordnete Striche macht es automatisch zu einem Kreis, obwohl gar keine Kreiskonturen existieren. Selbst bei wild auf einem Papier verteilten Flecken sucht das Hirn nach einem Sinn: Ist das ein Schneemann oder ein Reiter auf einem Pferd? Und jeder hat schon in Wolken Gesichter, Tiere oder Pflanzen entdeckt.

Bereits der griechische Philosoph Aristoteles hat sich mit der Wahrnehmung unserer Sinne beschäftigt und beschrieben, wie einen der Tastsinn täuschen kann: Tippt man sich mit überkreuzten Fingern an die Nasenspitze, fühlt man zwei Nasen. Dies, weil bei den überkreuzten Fingern die Lage der Fingerseiten vertauscht ist: Die normalerweise einander abgewandten Seiten liegen jetzt nebeneinander und berühren die Nasenspitze gemeinsam. Dabei meldet jeder Finger wie gewohnt die Berührung der Nase an das Gehirn, das zwei Nasen registriert. Oder wenn man für etwa eine Minute eine Hand in kaltes Wasser und die andere in heisses Wasser taucht, dann beide Hände in lauwarmes Wasser legt, fühlt sich dieses für die kalte Hand heiss an und für die andere kalt.

Geradezu prädestiniert für Fehlwahrnehmungen ist das Gehör. Denn Lebewesen und Gegenstände «besitzen» keine Geräusche. Sie lösen vielmehr Luftschwingungen aus, die erst im Ohr und dann im Gehirn zu Tönen werden. So erklärt sich, warum die Sirene eines heranfahrenden Krankenwagens immer höher klingt, je näher er kommt. Beim Entgegenkommen werden die Schwingungen gestaucht (höherer Ton), beim Wegfahren werden sie gedehnt (tieferer Ton).

Phantomgerüche

Der Geruchssinn kann uns ebenfalls in die Irre führen. Es gibt sogar Menschen, die üble Gerüche wahrnehmen, die gar nicht existieren, sogenannte Phantomgerüche. Oder aber Düfte lösen Rückschlüsse aus, die nicht stimmen müssen: Der Geruch eines frisch gebohnerten Parkettbodens assoziiert das >Hirn ? aufgrund zahlreicher Erfahrungen ? zwingend mit Sauberkeit.

Unsere Sinne beeinflussen sich aber auch gegenseitig. So spielt beispielsweise der Geruch beim Essen eine zentrale Rolle ? und das, was wir sehen ist für das, was wir schmecken von zentraler Bedeutung: Ein Erdbeerkuchen auf einem weissen Teller serviert, wird als süsser wahrgenommen als auf einem schwarzen Teller. «Selbst die Umgebung beeinflusst die Wahrnehmung. Wenn man in den Ferien am Meer im Süden einen wunderbaren Wein trinkt und davon ein paar Flasche nach Hause nimmt, stellt man meist fest, dass der Wein dort nicht mehr gleich gut schmeckt», sagt Georg Felser.

Bei der Sinneswahrnehmung dürfe man ausserdem das Vorwissen nicht unterschätzen: In einem Versuch versetzten Wissenschafter Bier mit Balsamico-Essig. Die eine Hälfte der Probanden wusste dies vor der Verkostung, die andere erfuhr erst danach, aber noch vor der Bewertung davon. Nur die Gruppe, die von Anfang an informiert war, bewertete das Bier negativ. Daraus folgert der Professor: «Wissen verändert nicht nur das Urteil, sondern das Erleben selbst.»

Manipulatives Sinnes-Marketing

Die auf Vorwissen basierende Erwartungshaltung setzt man im Sinnes-Marketing denn auch manipulativ ein: Etwa bei der Farbgebung von Margarine, die als weicher und besser streichbar empfunden wird, wenn sie dunkler ist. Bei Wurstwaren sorgen Farbstabilisatoren dafür, dass sie ihre rosarote Farbe behalten, was Frische ausstrahlt. Auch nach Frühling duftende Putzmittel wirken frisch sowie sauber und hygienisch. Sogar die Lautstärke von Staubsaugern wird nicht dem Zufall überlassen: Wenn sie zu leise sind, vermitteln sie das Gefühl, nicht richtig zu saugen.

Schliesslich dürfen Verpackungen heute auch nicht mehr nur gut aussehen, sondern sollten möglichst viele Sinne ansprechen. Darum steckt die Industrie viel Geld in die Erforschung unserer Wahrnehmung von Farben, Design und Haptik ? und wie diese das Kaufverhalten beeinflusst. Dabei zeigt sich immer wieder, dass der Mensch Volumina schlecht abschätzen kann und sich leicht täuschen lässt.

Für Professor Felser sind Sinnestäuschungen jedoch grundsätzlich nichts Negatives: «Wir haben die Tendenz, mit einer rosa Brille durch die Welt zu gehen, und das ist gesund.» Wenn wir die Welt immer genau so erkennen würden, wie sie wirklich ist, würden wir vermutlich in eine tiefe Depression verfallen.

Der Artikel ist auch erschienen im «Beobachter»

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