
Artikel teilen:
«Ein Tag ohne Lächeln ist ein verlorener Tag»
Noch immer haben viel zu viele Kinder Löcher in den Zähnen. Das muss sich ändern, sagt der Schulzahnarzt Alessandro Perucchi. Die Eltern sind gefordert. Dazu beitragen könnte aber auch ein besseres Finanzierungsmodell in der Schulzahnmedizin – wie im Kanton Tessin.
Von Vera Bueller / 30. April 2017
Selezione: Mussten Sie als Kind eine Zahnspange tragen?
Alessandro Perucchi: Ja, und das sogar sehr lange – von 7 bis 13 Jahren. Ich hatte einen zu schmalen Gaumen, der kieferorthopädisch erweitert werden musste.
Und Sie haben keinen Zahnarzt-Trauma davongetragen, weil sie in der Schule wegen der Spange gemoppt wurden?
(Lacht) Ein Trauma nicht, aber als Kind fand ich das Spangetragen schon eher lästig. Heute ist das bei den Kindern und Jugendlichen ganz anders: Die Schienen tragen sich bequemer, man kann sie auch auf der Gaumen- oder Zungenseite ankleben. Und sie gibt es in den Wunschfarben der Kinder. Die abnehmbaren Spangen lassen sich sogar mit allen möglichen Logos versehen – etwa dem des Lieblings-Fussballklubs. Darum gibt es heute sogar viele Kinder, die enttäuscht sind, dass sie keine Zahnkorrektur brauchen – weil die Gschpänli alle eine bunte Spange haben.
Das Ziel sind perfekte Zähne?
Ich bin kein Fan der «weissen Wand» im Mund. Eine kleine Zahnlücke, ein leicht schiefer Zahn oder sonst ein kleiner Defekt kann durchaus auch schön sein, kann quasi zum Markenzeichen einer Persönlichkeit werden. Wichtig ist, dass es keine funktionellen Probleme gibt.
Ab wann sollten Zahnfehlstellungen bei Kindern vom Zahnarzt behandelt werden?
Geht es um einen kleinen Platzmangel oder um Platzüberschuss im Mund, schiebt man die Behandlung auf später auf, erst nachdem alle Milchzähne gewechselt haben, also mit 12 Jahren. Wenn die Knochen des Kiefers oder eben der Gaumen nicht stimmen, dann muss man früher schon mit 6 oder 7 Jahren handeln.
Und wann sollen die Eltern mit dem Kind zum ersten Mal zum Zahnarzt gehen?
Ich empfehle mit zwei, spätestens drei Jahren. In Kantonsspital Luzern bekommt ein jedes Neugeborene einen kleinen Pass, der eine Gratisuntersuchung im Alter von 2,3 und 4 Jahren garantiert. Das finde ich eine sehr gute Idee. So gewöhnt sich ein Kind schon früh an den Zahnarztbesuch.
Hat ein Kind nicht automatisch Angst vor dem Zahnarzt?
Ein guter Zahnarzt kann die notwendigen Eingriffe kindgerecht erklären, sie möglichst sanft vornehmen und so die Angst nehmen. Leider drohen immer noch viele Eltern mit dem Bohren beim bösen Zahnarzt, wenn die Zähne nicht richtig geputzt werden. Es geht aber auch anders: Ich hatte neulich eine Mutter in der Praxis, die meinte, ihr Mädchen sei nicht normal. Es gehe lieber zum Zahnarzt als zum Sportunterricht.
Wenn Sie zum ersten Mal in den Mund eines Kindes schauen: was sind gesunde Zähne?
Auf den ersten Blick muss die Zahnstruktur gesund aussehen, das heisst die Milchzähne müssen wirklich weiss sein – sie sind übrigens immer weisser als die später folgenden, bleibenden Zähne. Das Zahnfleisch muss schön rosa sein und darf bei Berührung nicht bluten, es sollte nicht gerötet und nicht geschwollen sein.
Nun sind das aber erst die Milchzähne. Wichtig ist doch vor allem, was mit den nachfolgenden bleibenden Zähnen passiert.
Das ist ein Irrtum, dem viele Eltern unterliegen. Sind Milchzähne von Karies befallen, infizieren sie auch oft die nachstossenden bleibenden Zähne. Und auch ein Loch im Milchzahn enthält Bakterien, die geschluckt werden und sich im ganzen Organismus verbreiten.
Was müssen die Eltern ihren Kindern also beibringen?
Kinder müssen schon ab dem ersten Zahn das Zähneputzen lernen. Ein angefeuchteter Wattebausch, ein Tuch oder am allerbesten eine weiche Kinderzahnbürste leisten gute Dienste. Dazu gibt es spezielle Zahnpasta, die nicht mehr als 0,025% Fluorid enthalten darf. Wichtig ist auch eine kleine weiche Zahnbürste, die man alle zwei Monate wechseln sollte. Entscheidend ist aber, dass das Zähneputzen von Klein an zum täglichen Ritual wird. Genauso wie das Zubettgehen. Das Zähneputzen kann nämlich auch ein Riesenspass, ein Erlebnis sein.
Wie das?
Es gibt wunderbare Kinderbücher – etwa über knabbernde Bakterien, über Zähne putzende Tiere wie Leo Lausemaus und Benni Bär. Oder lustige Reime und Lieder. Man kann das Zähneputzen am Kuscheltier oder an der Puppe vorführen, auch an Kasperlifiguren oder mit weichen Fingerhut-Zahnbürsten aus Gummi oder Silikon, mit denen man spielerisch die ganze Prozedur einübt. Und warum sollen die Kinder nicht auch mal die Zähne der Eltern putzen?
Und was können die Eltern falsch machen?
Als Vater von drei Kindern kenne ich die Situation, wenn das Kind nachts weint. Da ist es verführerisch, es mit einem Schoppen mit Milch und Honig oder mit dem in Honig getränkten Nuggi zu beruhigen. Das Kind gewöhnt sich sofort an den Zuckergeschmack und will es künftig immer so haben. In der Nacht sollte das Kind nur einen mit Wasser gefüllten Schoppen bekommen – oder aber, bis einjährig, Muttermilch.
Einen Nuggi sollte man doch so oder so einem Kind nicht geben?
Heute wird der Nuggi ab drei Monaten bis drei Jahre sogar von den Zahnärzten empfohlen. Einen Nuggi kann man nämlich irgendwann wieder wegnehmen, einen Finger nicht. 80 Prozent der Kinder unter 2 Jahren nehmen den Finger in den Mund. Ich kenne Geschichten von Eltern, die einen schlecht schmeckenden Lack auf den Finger geschmiert haben um das Kind später zu entwöhnen. Mit dem Ergebnis, dass das Kind nach einer Woche Gefallen an dem Geschmack gefunden hat. Die Folge ist, dass die oberen Frontzähne nachhaltig nach vorne gedrückt werden. Das kann später kieferchirurgische Massnahmen zur Folge haben, weil die Backenzähne nicht mehr aufeinanderbeissen können. Oder es kommt wegen des Fingernuggelns zu Sprachstörungen.
Und der Honig oder Zucker führt zu was?
Nebst der Gewöhnung an den Zuckergeschmack, kann die Schleimhaut bereits vor den ersten Zähnen Schaden nehmen, weil der Zucker Säure produziert, die den Zahnschmelz angreift. In einer Studie in der Stadt Zürich wurde festgestellt, dass 13 Prozent der Zweijährigen bereits Löcher in den Zähnen haben. Und bei den Siebenjährigen sind es bereits 50 Prozent – und das trotz guter Schulzahnpflege in der Schweiz.
Sie haben die Schulzahnpflege angesprochen. In einigen Kantonen gibt es eigene Schulzahnkliniken. Andere haben sie in den letzten Jahren aus Spargründen geschlossen.
Entscheidend ist, dass der Kanton eine schulmedizinische Behandlung im Angebot hat und finanziell hilft – egal ob in einer kantonalen Zahnklinik oder bei einem Schulzahnarzt. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, können sich viele Eltern den Zahnarzt nicht leisten. Ich behandle Kinder immer, auch wenn die Eltern nicht sofort bezahlen. Denn die Kinder können nichts für ihre schlechten Zähne. Schuld sind immer die Eltern.
Und die finanzielle Hilfe durch die Kantone funktioniert?
Es gibt in der Schweiz ganz unterschiedliche Finanzierungsmodelle. Es gibt Kantone, die nur die erste Untersuchung bezahlen. Es gibt solche, die gar nichts bezahlen und solche, die etwas mehr bezahlen. Der Kanton Tessin ist diesbezüglich vorbildlich. Er bezahlt, wenn nötig, pro Kind 700 Franken pro Schuljahr und dies während 9 Jahren. (Siehe auch Box «Das Tessiner Modell»)
Und im Kindergarten, wohin die Kinder im Tessin mit drei Jahren gehen und den ganzen Tag bleiben, gibt es schon die erste Zahnprophylaxe. Da die Kinder hier auch zu Mittag essen, gehört das gemeinsame Zähneputzen zum täglichen Ritual.
Wie viele Kinder behandeln Sie als Schulzahnarzt?
Derzeit sind es rund 550 Kinder in drei Gemeinden.
Die Behandlung der Kinder kann recht aufwändig sein, weil man alles kindgerecht erklären muss. Aber es ist eine Investition in die Zukunft. Ein zufriedenes Kind kommt vielleicht später auch als Erwachsener gern zu mir.
Allerdings sollte man nur dann Schulzahnarzt werden, wenn man die Arbeit mit Kindern liebt. Es muss eine Passion sein. Auch wenn einige Entwicklungen einem Sorgen bereiten.
Welche Sorgen meinen Sie?
Ein grosses Problem ist das Knirschen mit den Zähnen. Immer mehr Kinder knirschen, weil sie Stress haben. Sie gehen zur Schule, haben nach der Schule noch Sportunterricht, dann Musikunterricht, dann Englisch und womöglich noch Chinesisch. Diese Art von Stress führt zu grossen muskulären Verspannungen. Ich arbeite in solchen Fällen mit einer Physiotherapeutin zusammen.
Zurück zum Anfang unseres Gesprächs: Trotz oder wegen Ihrer eigenen Zahnerfahrungen als Kind sind Sie Zahnarzt geworden?
Mein Traum war es immer, Arzt zu werden, speziell Chirurg. Zu Beginn der Ausbildung in der Humanmedizin wurde mir aber bewusst, dass ich es schwer verkraften würde, wenn mir ein Patient stirbt. Also habe ich mich für die Zahnchirurgie entschieden: Es ist schön, jemandem wieder ein Lächeln schenken zu können. Charlie Chaplin hat gesagt: Ein Tag ohne Lächeln ist ein verlorener Tag.
Ratgeber
Zähne putzen: schon ab dem ersten Zahn, dreimal täglich mit einer weichen Zahnbürste. Ab Kindergartenalter soll das Kind morgens und mittags allein putzen, abends immer mit den Eltern.
Nach dem Zähneputzen nicht spülen, nur ausspucken. Für Kleinkinder die entsprechende Spezialzahnpasta und -bürste benutzen.
Zucker: Auf den Zuckergehalt der Nahrung achten! Gute Zwischenmahlzeiten: Früchte, Gemüse, Getreide, Nüsse und Milchprodukte. Als Durstlöscher nur Wasser oder ungesüsster Tee.
Bei Bonbons und Kaugummi auf das Logo «zahnfreundlich» (Zahn-Männchen mit Schirm) achten, Kennzeichnung wie «ohne Zucker» genügen nicht.
Zahnunfälle: Kieferschutz und Zahnschutzschienen bei risikoreichen Sportarten nutzen.
Bei Zahnverlust mit der Wurzel, den Zahn wieder in die Wunde stecken oder im eigenen Speichel im Mund behalten. Alternative: Salzwasserlösung, Milch oder ein feuchter Lappen Wichtig: sofort den Zahnarzt aufsuchen und den Unfall der Krankenkasse melden.
Pearcing: Pearcings in der Zunge, in die Unter- oder Oberlippe gefährden die Zähne, verursachen Schwellungen, Schmerzen, Allergien oder Atemprobleme und Probleme beim Reden. Für den Zahnarztbesuch das Pearcing nicht vorher entfernen.
Mehr Infos: www.sso.ch
Das Tessiner Modell
Im ersten Schuljahr müssen die Eltern entscheiden: Soll das Kind zu einer ersten Untersuchung zum Schulzahnarzt? Falls ja, hält dieser im persönlichen Zahn-Büchlein des Kindes den Befund fest und die Eltern können entscheiden, ob der Schulzahnarzt die Behandlung durchführen soll oder ob auf eigene Kosten ein privater Zahnarzt damit beauftragt wird.
Der jeweils behandelnde Schulzahnarzt wird von der Zahnärzte-Gesellschaft SSO streng kontrolliert: Regelmässig kommt eine Delegation und pickt zehn Kinder heraus, die behandelt wurden. Die Kommission kontrolliert dann deren die Krankengeschichte und untersucht sie.
Alle vier Jahre wird das Mandat des Schulzahnarztes neu öffentlich ausgeschrieben.
Der Kanton bezahlt pro Kind 700 Franken pro Schuljahr während 9 Jahren. Einen Teil der Kosten muss die Wohngemeinde übernehmen – wobei es ihr freisteht, für therapeutische Behandlungen gut situierte Eltern mit in die Pflicht zu nehmen.