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Eine übergewichtige Person im schlanken Körper
In der Schweiz sind 10 Prozent der Bevölkerung stark übergewichtig. Die meisten von ihnen versuchen erfolglos während vieler Jahre mit Diäten abzunehmen. Als Ausweg bleibt oft nur ein operativer Eingriff am Magen. Doch der Entscheid will gut überlegt sein.
Von Vera Bueller / 8. Dezember 2019
Yvonne Gallussers Ex-Chef ist schuld, dass nur noch ein Drittel ihres Magens normal funktioniert: Sie sei, sagte er, derart dick «dass ich einen Umweg bis in den Thurgau fahren muss, um an Ihnen vorbei zu kommen». Yvonne Gallusser, die gerade damit beschäftig war, die Theke des Käsegeschäfts zu reinigen, konnte kaum fassen, was sie da hörte. Später flossen die Tränen, dann packte sie die Wut: «So, dem zeige ich es!». Sie griff zum Telefon und liess sich einen Termin im Adipositas-Zentrum der Universität Zürich geben.
Das war vor vier Jahren. Damals wog die 175 Zentimeter grosse Frau 140 Kilo. Sie hatte bis zu dem Tag alles versucht, um dauerhaft abzunehmen: Trenn- und Rohkost, Säure-Base-Hausmittel, Fasten, Modifast- und Weight Watchers-Produkte. Mal hat sie auf Kohlenhydrate verzichtet, dann wieder auf Proteine oder Fette. Wie die Steinzeit-Menschen zu essen brachte ebenso wenig, wie «Friss die Hälfte» und diverse Ernährungsberatungen. «10 bis 20 Kilo abzunehmen, war kein Problem», sagt sie. Nur konnte sie das Gewicht nie über längere Zeit halten.
Mit der ersten Diät begann das Drama
Als Kleinkind war die heute 41-Jährige noch schön schlank, doch ab sieben Jahren wurde sie zunehmend pummelig, als Teenager war sie mollig. «Dann habe ich meine erste Diät gemacht. Ich hatte es satt, anders zu sein, wollte mich auch mal modisch kleiden, mit den Gschpänli ins Kino gehen und einfach dazu gehören». Aber mit dieser Diät begann das Wechselspiel von Ab- und Zunehmen – der Jo-Jo-Effekt kam voll zum Tragen. «Nichtchirurgische Methoden zur Behandlung des krankhaften Übergewichts sind selten langfristig erfolgreich», bemerkt denn auch Ralph Peterli, stellvertretender Chefarzt des Bauchzentrums am St. Claraspital in Basel. Meist liege es an den Genen, die darauf ausgelegt seien, Reserven für Hungerzeiten anzulegen – was einst von Nutzen gewesen war, sei in der heutigen Zeit eben ein Problem.
So bleibt denn als Ausweg aus dem Teufelskreis vergeblicher Diäten oft nur noch ein operativer Eingriff am Magen. «Sie bewirken bei über 90 Prozent der Patienten eine dauerhafte Gewichtsabnahme, was zu einer deutlichen Steigerung der Lebensqualität und der Lebenserwartung führt», sagt Ralph Peterli. Für einen solche Eingriff kämen grundsätzlich Personen mit einem Body-Mass-Index BMI von mehr als 35 in Frage (BMI: Körpergewicht in Kilo geteilt durch Köpergrösse in Meter im Quadrat). Sie müssten aber zuvor während mindestens zweier Jahre mit konservativen Therapien versucht haben, abzunehmen. Doch jeder Fall müsse individuell betrachtet werden, und entscheidend sei auch, wie stark fortgeschritten die gesundheitlichen Folgeerkrankungen des Übergewichts den Patienten belasten. Dazu zählen unter anderem Bluthochdruck, Diabetes, Stoffwechselstörungen und körperliche Behinderungen. Und eine sorgfältige psychologische Abklärung vor einer Operation sei wichtig: «Ein Eingriff führt neben physischen auch zu psychischen Belastungen, zumal die Patienten ihr Essverhalten danach radikal ändern müssen.»
BMI von 44
Yvonne Gallusser war zu allem bereit. Ihr BMI lag bei 44 (Körpergewicht in Kilo geteilt durch Körpergrösse in Metern im Quadrat). Ihre Kondition war weg, Treppen zu steigen, fiel ihr schwer; ihr Körper war ihr eine einzige Last. Als Jugendliche habe sie trotz ihres Übergewichts viel Sport getrieben und sei recht fit gewesen. «Aber je älter und schwerer man wird, desto mehr Begleiterscheinungen kommen hinzu – Rücken, Knie und Füsse tun weh. Abends ist man ausgepowert. Und dann bewegt man sich plötzlich nicht mehr.» Die Detailhandelsfachangestellte musste sich eingestehen, dass sie es allein nicht mehr schaffen konnte. Sich ärztliche Hilfe zu holen, habe sie allerdings viel Überwindung gekostet: «Ich habe mich als totale Versagerin gefühlt.»
Hinzu kam die Angst vor der Operation. Und die Frage nach der richtigen Methode: Magenband, Schlauchmagen oder Magenbypass? Bei all diesen Eingriffen wird das Volumen des Magens verkleinert, was hemmend auf den Appetit wirkt und zu einer schnelleren Sättigung führt (siehe Box). Wenn grössere Abschnitte vom Dünndarm nicht mehr mit der Nahrung in Kontakt kommen, werden auch weniger Proteine aufgenommen.
Für Yvonne Gallusser kam nur der Magenbypass in Frage: «Weltweit ist zwar der Schlauchmagen im Vormarsch, aber in der Schweiz ist das zum Glück nicht so», sagt Ralph Peterli. Ein Magenbypass sei effektiver, allerdings auch etwas komplexer zu operieren, «weshalb die Eingriffe in der Schweiz nur in anerkannten Zentren durchgeführt werden dürfen.»
Doch auch das schliesst Komplikationen nicht aus. Laut dem Dachverband Schweizerischer Patientenstellen (DVSP) kommt es bei 162 von 1000 Personen zu unerwünschten Ereignissen. Jährlich werden mehr als 5000 Magenverkleinerungs-Operationen durchgeführt, zu 74 Prozent bei Frauen.
Diverse Komplikationen und Nachoperationen
Von Nebenwirkungen kann Yvonne Gallusser ein Lied singen. Sie musste nach dem Eingriff sechs weitere Male operiert werden: wegen Hernien, Fisteln, eines Bruchs und einer Darminvagination – weil das Fett zu schnell geschmolzen sei, hätten sich Lücken gebildet, an denen sich der Darm ineinander gestülpt habe. Heute leidet sie am Dumpingsyndrom: Kohlenhydrate werden von ihrem Körper zu schnell aufgenommen, was dazu führt, dass der Blutzuckerspiegel schnell steigt und abrupt wieder fällt.
Nicht leicht gefallen sei ihr auch die Umstellung beim Essen: «Der Kopf muss sich erst daran gewöhnen, weniger zu essen und satt zu sein. Man muss lernen, aufs Magengefühl zu hören.» Früher habe sie einfach immer Hunger gehabt. Nun esse sie zu festgelegten Zeiten kleine Portionen, mehr Fisch und Gemüse. Sie dürfe aber alles essen, eingeschränkt sei nur die Menge.
Bereut Sie, den Eingriff? «Keineswegs! Ich würde die OP jederzeit wieder machen», betont die heute nur noch 75 Kilo schwere Frau. Sie sei viel selbstsicherer geworden und habe sich einen Traum erfüllt: Kleider ab Stange kaufen zu können. Ihre Lebensqualität habe sich fundamental geändert. Sie treibe wieder Sport und gehe in den Ausgang. «Im Alltag auf der Strasse schauen mich die Leute nicht mehr verächtlich an. Und plötzlich beachten mich die Männer», lacht sie. Ein Problem ist geblieben: «Alles dreht sich immer ums Essen. Das ist auf Dauer ermüdend», sagt Yvonne Gallusser. Darum sei eine psychologische Nachbetreuung und der Austausch mit anderen Betroffenen wichtig. Sie hat zu dem Zweck gleich die eigene Selbsthilfegruppe «Dicke Freunde» gegründet. «Es ist eben wie bei trockenen Alkoholikern. Man ist nie definitiv therapiert. Ich bin heute eine übergewichtige Person in einem schlanken Körper.»
Die wichtigsten Methoden:
- Schlauchmagen: Eine Magenverkleinerung wird erzielt, in dem der dehnbare Teil des Magens entfernt wird. Übrig bleibt ein Zeigefinger dicker Schlauch.
- Magenband: Das Magenband ist eine mechanische Sperre indem ein Silikonband im oberen Teil des Magens um den Magen angebracht wird, wodurch ein kleiner Vormagen entsteht. Der Magen wird dabei nicht verkleinert. Wird kaum mehr durchgeführt.
- Magenbypass: Beim Magenbypass wird ein kleiner Teil vom Restmagen abgetrennt und mit der ersten Dünndarmschlinge verbunden.
Mehr Infos: Adipositas-Stiftung Schweiz www.saps.ch
Der Text ist auch erschienen im «Beobachter»