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Gemeinschaft macht stark – und hält jung

Soziale Kontakte sind im Alter mehr als nur eine Bereicherung – sie sind lebenswichtig. Wer gut vernetzt ist, altert gesünder, bleibt länger fit und lebt erfüllter. Ein Dorf im Südtessin zeigt, wie das gelingen kann.

Von Vera Bueller / 24. Dezember 2024

Endlich Dienstag: Miriam Fontana freut sich auf den Nachmittag. Sie macht sich wie immer dienstags schick, um mit der Gruppe Terza Età aus Ligornetto etwas zu unternehmen. Heute trifft sich die Runde der Generation 65plus mitten im Dorf in der Bar Palau zur Castagnata, dem Kastanienfest. Zarter Rauch steigt vom Feuer vor der Bar auf, über dem die Marroni brutzeln, und durch das offene Fenster dringt der Duft frisch gerösteter Kastanien in den dicht gefüllten Raum. Es wird geplaudert, gelacht und erzählt. Man erfährt den neuesten Dorfklatsch. Miriam sitzt an einem langen Tisch und lächelt zufrieden: «Das ist eine schöne Abwechslung. Die Treffen sind für mich die Verbindung zur Aussenwelt», sagt sie.
Weil die 85-Jährige nicht mehr gut zu Fuss ist, geht sie nur noch selten unter die Leute. Da springt die Gruppe Terza Età ein: Eine Freiwillige aus dem sechsköpfigen Leitungsteam fährt sie jeweils zum Treffpunkt. Auch andere der rund 30 in der Gruppe aktiven Anziani (Senioren) profitieren vom «Taxidienst», den die Ehrenamtlichen mit ihren Privatautos kostenlos anbieten, damit sie nicht nur zu Hause bleiben und zunehmend immobil werden.

Ein spontaner Versuch
Als die Gruppe vor gut fünf Jahren ins Leben gerufen wurde, war es ein spontaner Versuch. «Ich hatte vorher mit Kindern gearbeitet und schon länger die Idee, auch etwas für die älteren Menschen im Dorf zu tun», erzählt Loredana Cinesi, die Initiantin der Gruppentreffen. Gemeinsam mit ein paar Freundinnen «haben wir dann ohne Bürokratie, ohne Statuten und ohne Geld losgelegt. Wir wollten einfach nur regelmässige Treffen zu verschiedenen Anlässen organisieren». Das ist gelungen: Mal steht Altersturnen (im Sitzen) auf dem Programm, mal Singen «tutti insieme», Zeichnen und Malen unter Anleitung einer Künstlerin, vor Weihnachten backen die Anziani gemeinsam Weihnachtsguetzli, im Herbst besuchen sie das Weinfest – la Fiera di San Martino – und immer wieder gibt es kleine Ausflüge in Museen oder in ein Grotto. Letztes Jahr waren sie in der Schaukäserei Caseificio del Gottardo und hatten ihren eigenen Käse hergestellt – das Ergebnis steht jetzt, nach neun Monaten Reifezeit, zum Apéro auf den Tischen. Alle finden ihn «grossartig und kräftig». Die Seniorinnen und Senioren, die regelmässig an den Treffen teilnehmen, zahlen 20 Franken pro Jahr und beteiligen sich im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten an solch besonderen Veranstaltungen. Kommuniziert werden die Treffen problemlos über WhatsApp.

Wirkt gegen Demenzerkrankung
«Das ist fantastisch», kommentiert Christine Brombach das Engagement. Sie ist Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Dort erforscht sie unter anderem, wie Essverhalten, soziale Aspekte, gesellschaftliche Unterstützung und gemeinschaftliche Strukturen dazu beitragen können, Einsamkeit und soziale Isolation im Alter zu verhindern. «Soziale Kontakte sind enorm wichtig», sagt sie. Neuere Forschungen belegten, dass der Kontakt zu anderen Menschen Alterungsprozesse verlangsame und Demenzerkrankungen entgegenwirke. Die negativen Folgen von Einsamkeit und sozialer Isolation für die Lebensqualität und Gesundheit älterer Menschen seien gravierend: Stress, Depressionen, kognitive Einschränkungen und ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko. Umgekehrt fördere soziale Unterstützung die Genesung nach Krankheiten wie Schlaganfall und Herzinfarkt.
«Man muss sich aber rechtzeitig auf das Älterwerden vorbereiten und soziale Kontakte sowie Hobbys pflegen. Nicht erst mit der Pensionierung». Plötzlich fehlt dann nämlich vieles: die Herausforderung im Beruf, die Bestätigung, Gespräche mit Kollegen und Kolleginnen. Weitere Auslöser für eine Vereinsamung können der Verlust des Partners, der Partnerin, der Selbständigkeit oder finanzielle Sorgen sein. Oft entstehe dann ein Teufelskreis: Die betroffene Person denke, «ich habe niemanden» und die Umgebung denkt, «die ist aber komisch geworden».

Männer sind gefährdet
«Aus der Isolation herauszukommen, ist dann schwierig.» Zwar könne man sich einen Hund als «Kontakteisbrecher» anschaffen, aber Christine Brombach sieht die Verantwortung vor allem bei der Gesellschaft, denn Nachbarschaftshilfe sei wichtig. «Man muss darauf achten, wie es den Menschen um einen herum geht. Warum nicht mal einen Nachbarn zu sich zum Mittagessen einladen? Männer sind eher gefährdet zu vereinsamen, weil Frauen in einem traditionellen Familienleben mit Kinderbetreuung und -erziehung zwangsläufig soziale Kontakte zu Lehrern, Ärzten und anderen Eltern pflegen.»
Es brauche Menschen wie die Freiwilligen von Ligornetto, die etwas anstossen. Doch auch die öffentliche Hand sei gefordert: «Sie muss Begegnungsstätten und die Freiwilligenarbeit anerkennen, wenn möglich auch entschädigen.» Die Gemeinde Mendrisio, zu der Ligornetto gehört, übernimmt beispielsweise die Saalmiete im Oratorium (Pfarreiheim) und lädt im Dezember zum grossen Weihnachtsessen mit Tombola (Bingo) ein. Es ist der Höhepunkt des Jahres für die Gruppe.

Entscheiden ist die Qualität, nicht die Quantität
«Zu einem Essen kommen immer alle», sagt Loredana Cinesi lachend. Und Christine Brombacher weiss: «Das Essen im Alter spielt eine zentrale Rolle. Gerade die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig es ist, in Gesellschaft zu essen. Die Mahlzeit mit jemandem zu teilen, ist ein enorm sinnlicher Moment – und in Gesellschaft schmeckt es einfach besser.» Das gemeinsame Essen beginne ja schon vor der Geburt im Mutterleib.
«Allein zu essen kommt zwar oft vor, bedeutet aber nicht automatisch auch einsam zu sein. Einsamkeit ist ein subjektives Empfinden.» Von aussen mag eine Person kontaktfreudig und in der Gesellschaft integriert wirken, fühlt sich aber selbst nicht ausreichend verbunden. Die Frage ist, wie integriert fühle ich mich selbst, wen kann ich anrufen, wenn ich Hilfe oder jemanden zum Reden brauche? «Dabei kommt es nicht auf die Quantität der Kontakte an, sondern auf die Qualität – ein, zwei, drei gute Freunde reichen. Es geht um ein verlässliches Beziehungsnetz.»
In Ligornetto scheint das zu funktionieren. Umgeben von vertrauten Gesichtern betont Ceci Salvadè (70), «dass man sich hier umeinander kümmert. Nicht jeder hat Familie in der Nähe», und Miriam Fontana bemerkt, «hier fühlt sich das Alter etwas leichter an». Auffallend ist auf jeden Fall, wie gut gelaunt die Anziani nach Hause gehen.


Möglichkeiten soziale Kontakte im Alter zu knüpfen:

  • Hobbies und Interessen verfolgen: Viele Städte und Gemeinden bieten Kurse speziell für ältere Menschen an, sei es Yoga, Handwerk oder kulturelle Veranstaltungen.
  • Einer lokalen Gruppe/einem Verein beitreten, eine ehrenamtliche Tätigkeit suchen.
  • In der Regionalzeitung oder im Internet Veranstaltungen in der Nähe verfolgen – z. B. über eine Online-Plattformen für Senioren.
  • Das Angebot der Seniorenuniversitäten studieren.
  • Bei Schwierigkeiten eine Gesprächstherapie oder Beratung in Anspruch nehmen.

Ligornetto ist Teil des Netzwerkes Caring Communities: www.caringcommunities.ch
Pro Senectute – nationale und regionale Anlaufstellen: www.prosenectute.ch

Dieser Artikel ist auch erschienen im «Beobachter»

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