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Im Reich der Kälte

Tiefe Temperaturen im Winter können für viele eine Herausforderung sein. Doch im Vergleich zu den extrem kalten Regionen wie Island, Grönland, Alaska oder Sibirien sind sie meist harmlos. Wie überstehen die Menschen dort die eisigen Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt?

Von Vera Bueller / 25. Februar 2024

Frost war eine treibende Kraft für Kreativität, Innovation und Zusammenarbeit. Unsere Vorfahren lernten, sich warm zu halten, Vorräte anzulegen, Nahrung haltbar zu machen, zu planen, einander zu vertrauen und füreinander zu sorgen. Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf geht davon aus, dass bereits vor einer Million Jahren der Homo erectus, einer unserer Vorfahren, Tierfelle zu Kleidung verarbeitete, um der Kälte zu trotzen. Erst mit dieser zivilisatorischen Errungenschaft im Marschgepäck konnte er sich auf den Weg machen, um Europa, Asien und später die ganze Welt zu besiedeln. Auch Ötzi, der «Mann aus dem Eis», wusste vor 5000 Jahren schon sehr gut, wie man sich warmhält: mit Schuhen aus Gras, Leggins aus Leder und einer fetten Bärenfellmütze.

Bis heute hat sich daran wenig geändert. Die Bewohner Sibiriens und der Mongolei bevorzugen nach wie vor Felle und schwere Stoffe, um sich warm zu halten. In Island setzt man auf isländische Schafwolle, die aus besonders gut isolierenden, Lufttaschen bildenden Fasertypen besteht. Die indigener Völker im hohen Norden Grönlands, Alaskas oder Nordkanadas tragen bevorzugt Hosen aus fettigem Bärenfell, die vor Feuchtigkeit schützen. Und sie nutzen wasserabweisende Felle von Meeressäugern, während die Nenzen und Jakuten, die Nomaden Russlands und der Mongolei, Rentierfelle verwenden.

Veganer haben es schwer

Allen diesen Warmhaltemethoden ist das Zwiebelprinzip gemein. Statt nur eine einzige dicke Winterjacke anzuziehen, werden mehrere Schichten weiter Kleidung übereinander getragen. Dadurch entstehen isolierende Luftpolster, die die Körperwärme einschliessen. Feuchtigkeit auf der Haut oder in der Kleidung kann dagegen zu einem schnellen Wärmeverlust führen, weil dadurch Körperwärme schneller an die Umgebung abgeleitet wird. Deshalb ist es wichtig, nicht zu schwitzen. Auch langes Stehen bei Wind vermeiden die Inuit, da der Windchill-Effekt die gefühlte Temperatur zusätzlich senkt.

Von den eisigen Weiten Sibiriens bis zu den frostigen Küsten Grönlands ist die Anpassungsfähigkeit des Menschen an extreme Kälte bemerkenswert. Doch Veganer haben es hier schwer: Die Ernährung in diesen Regionen ist reich an Fetten und Proteinen. In Alaska, Nordkanada und Grönland besteht sie meist aus Wild und Fisch. Auch in Sibirien, der Mongolei und Kasachstan essen die Menschen vorwiegend tierische Produkte. Die Inuit schwören auf fettreiche Kost mit Omega-3-Fettsäuren wie Robben- oder Walfleisch und ergänzen ihre Vitamine mit der Leber von Meeressäugern, während die Nomaden in Sibirien von Rentierfleisch und -milch leben. Auch die traditionelle isländische Küche ist reich an Fisch und Lamm. In den dunklen Monaten halten sie sich mit extra Portionen des Nationalgerichts Harfiskur bei Laune – getrockneter Fisch, der in Butter serviert wird.

Starker Gemeinschaftssinn

Viele Gemeinschaften in kalten Regionen haben kulturelle Traditionen und soziale Praktiken entwickelt, die den Zusammenhalt und die gegenseitige Unterstützung fördern, was für das Überleben in ihrer rauen Umgebung wichtig ist. In der Mongolei nutzen die Nomaden ihre Ziegen, Schafe und Pferde auch im Winter als «Wärmflaschen» und schlafen mit ihnen in der Jurte. In Grönland kennt man den Brauch des Eisgolfs, bei dem auf gefrorenem Eis Golf gespielt wird. Die Bälle sind leuchtend gefärbt, um sie im Schnee leichter zu finden. Auf der grössten Insel der Welt ist es im Winter nicht nur kalt, sondern auch einsam. Viele zieht es dann in die Städte. Lange Spaziergänge bei klirrender Kälte mit Freunden und Familie halten die Grönländer warm. Auch das Leben in Alaska und Nordkanada ist von einem starken Gemeinschaftssinn geprägt. Dabei begegnen die Alaska-Bewohner der Kälte mit Humor: Beim Winterfestival in Fairbanks gibt es Schönheitswettbewerbe für Eisskulpturen, Bärte und Skilangläufer im Bikini.

In Oimjakon, einem der kältesten bewohnten Orte der Welt in Sibirien, wurde einst ein Marathon bei Temperaturen um die -50°C veranstaltet. Die Läufer berichteten, dass ihre Schweisstropfen zu Eiskristallen gefroren, sobald sie ihre Stirn verliessen. Übrigens wurde die tiefste Temperatur, die jemals direkt auf der Erdoberfläche nachgewiesen wurde, am 21. Juli 1983 in der damals sowjetischen Station Wostok in der Antarktis gemessen. Sie lag bei -89,2°C.

Ohne Gegenmassnahmen eine tödliche Temperatur für den Menschen. Zuerst beginnt sein Körper zu zittern, beim Versuch Wärme zu produzieren. Bei einer Körperkerntemperatur von 35 Grad ist das Zittern am stärksten. Bei einer Kerntemperatur von 30 bis 32 Grad hört es auf, der Körper beginnt zu erstarren. Bei knapp unter 30 Grad verlieren die meisten Menschen das Bewusstsein. Alle Körperfunktionen laufen auf Sparflamme. Das Herz schlägt noch zwei- bis dreimal pro Minute. Bei vorsichtiger Erwärmung kann man einen solchen Körper wieder zum Leben erwecken. Mediziner, die sich mit Hypothermie befassen, wissen: «Du bist nicht tot, bevor du warm und tot bist».

Saunarennen barfuss durch den Schnee

In Finnland ist es Teil der Kultur und Gesellschaft, nackt in die Sauna zu gehen und dort in heisser, feuchter Luft zu schwitzen. Der Saunagang dient der Entspannung, der sozialen Interaktion und der geistigen Erneuerung. Es gibt sogar Saunarennen, bei denen zwischen verschiedenen Saunen gelaufen oder geschwommen wird – manche laufen barfuss durch den Schnee. Angefeuert werden die Teilnehmenden von begeisterten Zuschauern am Seeufer, die auch gerne mal einen Glühwein zur Stärkung anbieten.

Schon der Polarforscher Knud Rasmussen berichtete Anfang des 20. Jahrhunderts von Inuit, die bei Temperaturen von -30°C fast nackt und barfuss herumliefen, ohne Erfrierungen zu bekommen. Der Trick: Ähnlich wie bei Bären und Robben hat sich bei den Inuit über Generationen hinweg eine isolierende Speckschicht unter der Haut gebildet. Über die genauen physiologischen Mechanismen rätseln die Wissenschaftler allerdings noch.

Es wird auch behauptet, dass Frieren gesund sein kann. Eisbäder, Eisschwimmen und Kältekammern sind jedenfalls längst zu einem Lifestyle-Phänomen geworden. Und der Trend zu «wohltuenden» Kälteschauern ist Jahrtausende alt: Die Germanen sollen ihre Babys in Eislöcher geworfen haben, um ihre Stammhalterqualitäten zu testen. Und auch Hippokrates, der «Erfinder» der Medizin, vertraute auf die Kälte, um Blutungen zu stillen, Seelenschmerzen zu lindern und Fieber zu senken. Tibetische Mönche meditieren seit Jahrtausenden mit einer Atemtechnik, die es ihnen ermöglicht, stundenlang im Schnee zu sitzen und um sich herum einen trockenen Kreis zu bilden. Das Prinzip ist so einfach wie einleuchtend: Extreme Kälte versetzt den Körper in einen Schockzustand und fährt alle Schutzmechanismen hoch; die Ausschüttung von Adrenalin und Dopamin sorgt für das entsprechende Hochgefühl und die Fähigkeit, loszulassen.

Was wir in der Schweiz von Kältergeionen lernen können:

Mehrere Schichten Kleidung übereinander tragen. Weit geschnittene Kleider bieten Raum für isolierende Luftpolster. Eine Kombination aus wärmespeichernder Unterwäsche, Isolationsschichten und einer wasserdichten, winddichten Aussenschicht ist ideal. Körpermitte und Kopf besonders schützen. Einen Grossteil der Körperwärme verlieren wir über Kopf, Hals, Brust und Rücken – diese Kernregionen bei Aktivitäten im Freien besonders gut isolieren. Ernährung an kalte Temperaturen anpassen. Im Winter ist ein höherer Fett- und Eiweissanteil und eine kalorienreiche Ernährung sinnvoll, da der Körper mehr Energie zum Aufwärmen benötigt. Regelmässige Bewegung und guten Schlaf fördern. Leichte körperliche Aktivität oder Spaziergänge im Winter halten den Kreislauf und Stoffwechsel in Schwung und produzieren Wärme – und helfen auch gegen Winterdepressionen.

Der Artikel ist auch erschienen im «Beobachter»

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