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Lebe ich im Internet weiter?

Wenn der letzte Vorhang fällt, hinterlassen wir heutzutage nicht nur materielle Schätze, sondern auch ein schwer fassbares, digitales Vermächtnis. Um den Hinterbliebenen den Weg durch diesen Cyberspace-Dschungel zu erleichtern, gilt es, noch zu Lebzeiten Vorkehrungen zu treffen.

Von Vera Bueller / 4. August 2023

Wenn der letzte Vorhang fällt, hinterlassen wir heutzutage nicht nur materielle Schätze, sondern auch ein schwer fassbares, digitales Vermächtnis. Um den Hinterbliebenen den Weg durch diesen Cyberspace-Dschungel zu erleichtern, gilt es, noch zu Lebzeiten Vorkehrungen zu treffen.Wer hätte gedacht, dass ein kleines Notizbuch Andrin Lütolf in ein unerwartetes digitales Abenteuer stürzen würde? Alles begann mit dem Tod seiner Grosstante. Als Andrins Familie die Habseligkeiten der Verstorbenen durchstöberte, stiess sie auf ein unscheinbares Büchlein, das mit kryptischen Zahlenkombinationen und Wörtern gefüllt war. Es waren Passwörter und Benutzernamen für Online-Zugänge, die sie zu Lebzeiten sorgfältig notiert hatte.

Ein Glücksfall für die Nachkommen, denn so konnten sie zumindest teilweise auf die Cyber-Konten der Tante zugreifen. Bei einigen Online-Diensten erwies es sich dennoch als schwierig, Zugang zu erhalten oder zumindest die Sperrung und Kündigung von Abonnements zu erwirken. Und eine Unsicherheit ist geblieben: «Wir wissen nicht, ob das, was wir gefunden haben, alles ist. Letztlich kann man sich nie sicher sein, alle digitalen Hinterlassenschaften aufgespürt zu haben», meint Andrin Lütolf.

Die Erfahrungen mit dem digitalen Vermächtnis seiner Grosstante veranlasste den 18-Jährigen, sich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen und seine Maturaarbeit darüber zu schreiben. Dabei stiess er auf eine Welt voller Komplexität und Herausforderungen; vom Löschen persönlicher Daten bis zum Umgang mit sozialen Netzwerken – «es gibt viele Aspekte, die bei der Verwaltung des digitalen Nachlasses berücksichtigt werden müssen. Dazu gehören auch rechtliche und ethische Fragen, die sich aus dem Zugriff auf Online-Konten und Daten von Verstorbenen ergeben», sagt Andrin Lütolf. Für seine Maturaarbeit hat er viel Fachliteratur gewälzt, im Internet recherchiert, mit Experten gesprochen, und er ging vielen Fragen nach. Die wohl wichtigste: «Welche Vorkehrungen kann eine Person treffen, um den Erben den Umgang mit dem digitalen Nachlass zu erleichtern?»

Das Ergebnis seiner mit der Note 6 bewerteten Maturaarbeit ist auch in ein Merkblatt geflossen, das der Schweizerische Verband für Bestattungsdienste demnächst auf seiner Website aufschalten will – und die Examensarbeit ist für «Schweizer Jugend forscht» nominiert. Andrin Lütolfs Ziel ist es, die Öffentlichkeit für das Thema zu sensibilisieren und dazu beizutragen, dass die Gesellschaft besser auf die Herausforderungen des digitalen Nachlasses vorbereitet ist. «Oft geht es dabei weniger um einen materiellen als einen emotionalen Wert – etwa, um Fotos und Videos», meint der Maturand. Schliesslich umfasst der digitale Nachlass das gesamte digitale Vermögen einer verstorbenen Person, also alle elektronisch gespeicherten Daten auf PCs, USB-Sticks, Computern, Servern oder in Clouds (siehe Box).

Nicht alle Verstorbenen hinterlassen ein Notizbuch mit den Zugängen zur digitalen Hinterlassenschaft wie Andrin Lütolfs Grosstante. Was geschieht also mit dem digitalen Ich, wenn das analoge Ich stirbt und niemand mehr Zugriff auf die Konten hat? Im Prinzip passiert nichts. Die digitalen Spuren bleiben bestehen. Allerdings löschen manche Anbieter die Accounts nach einer bestimmten Zeit oder versetzen sie in einen «Gedenkzustand». Wer vorsorgen, aber nicht unbedingt ein Notizbüchlein führen will, kann einen Passwort-Manager benutzen. Mit einem solchen Programm muss man sich nur ein einziges Masterpasswort merken, und die Liste mit allen «untergeordneten» Benutzernamen und Passwörtern aktuell halten. «Am sichersten ist es, diese auf einem externen Datenträger zu speichern und den Erben das Masterpasswort dafür zu hinterlassen», empfiehlt Lütolf.

Der Umgang mit digitalen Daten ist für die Hinterbliebenen allerdings selbst dann nicht unproblematisch, wenn die Passwörter bekannt sind. Oft wird der Zugriff verweigert oder eine Löschung nur gegen Vorlage amtlicher Dokumente (Erbschein, Sterbeurkunde) erlaubt. Diese Prozesse sind aufwändig, nicht zuletzt, weil die Provider und Betreiber von Accounts oft im Ausland sitzen und deshalb nicht immer klar ist, welches Recht gilt. Judith Hubatka von der Zuger Anwaltskanzlei Reichlin Hess kennt das Problem. Sie hat sich auf Erbrecht spezialisiert: «Grundsätzlich gelten auch für digitale Vermögenswerte die allgemeinen erbrechtlichen Bestimmungen. Digitale Daten, die auf einem lokalen Träger (Computer, Server, USB-Stick) gespeichert sind, fallen zusammen mit allen anderen Vermögenswerten in die Erbmasse. Online-Accounts stellen nicht Vermögen, aber einen Vertrag dar; die Rechte und Pflichten gehen in der Regel auf die Erben über». Das ist wichtig zu beachten, weil Verstorbene häufig online abgeschlossene Verträge und kostenpflichtige Abonnemente hinterlassen (namentlich bei Cloud-Diensten, aber auch bei Unterhaltungsnetzwerken wie Netflix, Spotify etc.). In der Regel enden diese mit dem Tod des Abonnenten nicht automatisch und müssen daher gekündigt werden.

Bei digitalen Daten im Internet, seien die gesetzlichen Erbschaftsregelungen häufig unzureichend, «da das Gesetz der Realität hinterherhinkt», sagt Judith Hubatka. Erb-, Persönlichkeits- und Urheberrecht können auf komplexe Weise miteinander verknüpft sein und somit Schwierigkeiten bei der Regelung des digitalen Nachlasses verursachen. Etwa, wenn die Grosstante ihre Biografie, die sich als literarisches Meisterwerk entpuppt, in der Cloud gespeichert hat. Wer entscheidet, welcher Verlag das Buch drucken darf? Wem gehören die Filmrechte?

Besonders heikel wird es, wenn es um kryptografische Vermögenswerte geht: «Während früher Bankguthaben und Wertpapiere vererbt wurden, sind heute immer häufiger auch Krypto-Vermögenswerte wie Bitcoin oder Ethereum Teil des Nachlasses. Gerade hier besteht eine grosse Rechtsunsicherheit. Hinterlässt man unzugängliche Kryptowährungen, verlieren die Erben den Zugriff auf einen in finanzieller Hinsicht wichtigen Teil des Nachlasses», gibt die Rechtsanwältin zu Bedenken. Denn der Zugang zu den Krypto-Vermögenswerten eines Verstorbenen ist auch über eine Krypto-Börse nicht gewährleistet.

Andrin Lütolf ist sich sicher, dass sich in den kommenden Jahren die öffentliche Diskussion zum digitalen Nachlass intensivieren wird. Eine mögliche Entwicklung sei, dass Online-Dienstleister stärker in die Verantwortung genommen werden. «Das könnte zum Beispiel durch gesetzliche Vorgaben oder branchenübergreifende Standards geschehen, die den Umgang mit digitalem Nachlass regeln», sagt der angehende Jurist. Für Andrin Lütolf steht nämlich fest: Er will Rechtswissenschaften studieren.

Zum digitalen Nachlass gehören:

  • Social Media Accounts: Posts und Storys, Aktivitäten, Fotos, Reels und Videos usw.
  • E-Mail Accounts: Postfächer, Archive, Kontaktadressen
  • Lizenzen und digitale Güter: Software, digitale Musik, E-Books usw.
  • Webseiten: Domains, Blogs, Internet-Auftritt
  • Bezahlkonten: Logins für Online-Shops, PayPal oder Kreditkarten
  • Kryptographische Vermögenswerte: Kryptowährungen wie Bitcoins oder Ether und andere kryptographische Coins oder Tokens

 

So regle ich meinen digitalen Nachlass:

Damit wichtige Daten nach Ihrem Tod nicht verloren gehen, lohnt es sich, den eigenen digitalen Nachlass frühzeitig zu regeln. So gehen Sie am besten vor:

  • Bestimmen Sie eine Person, die Sie zu Lebzeiten über alles informieren
  • Richten Sie einen Passwort-Manager für alle Benutzernamen und Passwörter ein
  • Verschaffen Sie sich schriftlich einen Überblick über ihre Onlineaktivitäten
  • Welche laufenden Abos und Verträge gibt es und wie können sie wann gekündigt werden? (Streamingdienste wie Netflix, Spotify oder Amazon, die über die Kreditkarte abgerechnet werden. Lizenzgebühr für die Office 365, Abos Provider, Homepages, Zeitungen,)
  • Welche E-Mailkonti bestehen
  • Welche Konti für Onlineshops oder andere Dienstleistungen bestehen?
  • Welche Social Media Accounts existieren und könnten dereinst in den Gedenkzustand gesetzt werden? Gibt es Personen, die Sie für den Nachlasskontakt einsetzen wollen?
  • Treffen Sie ggf. Vorkehrungen für den Zugriff Krypto- oder andere virtuelle Währungen
  • Verfügen Sie ihren digitalen Nachlass im Testament

Links:

Anwaltskanzlei Reichlin Hess: «Reichlin» Zürcher Kantonalbank: «Kantonalbank»

Der Artikel ist auch erschienen im «Beobachter»

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