
Artikel teilen:
Progressive Arbeitszeitmodelle: VW sprüht vor Ideen – und Schweizer Firmen?
Europas grösster Automobilproduzent, VW, führt ein wegweisendes Beschäftigungsmodell ein: die Zeit-Aktie. VW-Mitarbeiter können sich «Zeit-Kapital» erarbeiten und damit früher in Rente gehen; gleichzeitig profitiert die Firma in arbeitsintensiven Phasen von einsatzwilligen «Zeit-Aktionären». Hierzulande indessen stossen solche Ideen bei den Unternehmern auf Ablehnung.
Von Vera Bueller / 12. Dezember 1996
Für die einen ist Arbeit zum teuersten Produktionsfaktor geworden, für die anderen zum begehrtesten Gut. Folglich werden einerseits die Löhne gedrückt, andererseits steigt der Wert der Arbeit für die immer kleiner werdende Zahl derjenigen, die noch eine Stelle haben. Und wo ein Mangel, da ein Markt. Also erstaunt es nicht, dass in der freien Marktwirtschaft teure und begehrte Arbeitszeit nun zu einer handelbaren Ware werden soll: Der Automobilkonzern VW will die erste Arbeitszeitbörse schaffen und die Zeit-Aktie einführen. Während in der Schweiz Betriebsschliessungen und Massenentlassungen an der Tagesordnung sind, wagt Volkswagen den ersten Schritt in eine zwar noch reichlich ungewisse, aber vielleicht wegweisende Zukunft: Der Wert Arbeitszeit wird als Kapital des arbeitenden Menschen akzeptiert, mit dem er Vorsorge für die Zukunft treffen und zugleich eine gewisse Teilhabe an «seinem Betrieb» erwerben kann.
Konkret funktioniert das neue VW-Modell wie folgt: Möchte ein Arbeiter künftig von seinem 55. Lebensjahr an nur noch 18 Stunden pro Woche arbeiten und dennoch 85 Prozent seines Lohnes beziehen, muss er zuvor Arbeitszeit sparen. Verzichtet er also in jungen Jahren auf die Auszahlung von Überstunden, bezahlten Pausen, Boni und Prämien, bekommt er dafür «Zeit-Wertpapiere». Diese Zertifikate, deren Wert einer bestimmten Zahl von Arbeitsstunden entspricht, sollen unter den VW-Angestellten frei handelbar sein und – weil der Konzern das derart gebundene Kapital in einem «Zeit-Investmentfonds» anlegt – gut verzinst werden. Neigt sich das Arbeitsleben dem Ende zu, löst der Beschäftigte sein Guthaben ein. Wechselt er die Stelle, werden ihm seine Stunden ausbezahlt; stirbt er vorzeitig, erhalten die Angehörigen sein Kapital.
Souveränität über alles
Nun ist VW freilich nicht das einzige Unternehmen, das mit neuen Arbeitszeitmodellen experimentiert: In der Schweiz lassen die PTT individuelle Lösungen innerhalb grosszügiger Blockzeiten zu; die Bundesverwaltung probierts mit einer Bandbreite von zwei Stunden plus/minus; einige Betriebe wie das Werk Ciba-Stein haben die Jahresarbeitszeit eingeführt. Und die Grossbanken diskutieren über gleitende oder verlagerte Arbeitszeit, Anpassung ans Arbeitsvolumen, generelle Teilzeitarbeit (bei linearer Lohnkürzung notabene), Jobsharing oder -Splitting, flexible Pensionierung und Kompensation von Überstunden. Doch die Lösungen sind erstens nicht sonderlich originell, und zweitens werden damit nicht – wie bei VW – Massenentlassungen verhindert. Vor allem aber gesteht Europas grösster Automobilhersteller seiner Belegschaft absolute Zeitsouveränität zu: Mit dem neuen Lebensarbeitszeit-Modell kann jeder individuell seinen gleitenden Ruhestand disponieren und die Verwendung sowohl seiner Arbeits- wie seiner Freizeit bestimmen.
Zugleich hat es der VW-Vorstand geschafft, werbewirksam die Neuschöpfung Workholder value zu lancieren und dem Begriff Shareholder value gleichzusetzen: Das Modell vereine nämlich Arbeitswert und Unternehmenswert, welcher – wie Personalchef Peter Hartz sich ausdrückt – «bisher zu einseitig nur als Shareholder value diskutiert wurde».
Die Gewerkschaft IG Metall und der Betriebsrat begrüssen denn auch den Vorschlag der Konzernspitze, die damit zügig ihrer Forderung nach einem neuen Lebens-arbeitszeit-Konzept nachgekommen ist. Wenngleich das Projekt noch im Detail geprüft und unter den Sozialpartnern ausgehandelt werden muss. Auch der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) signalisiert Offenheit für Lösungen mit Zeit- Wertpapieren. Solche müssten allerdings firmenübergreifend eingeführt werden, so dass ähnlich der Pensionskasse Freizügigkeitsleistungen entstünden. «Doch um darauf ernsthaft eintreten zu können, fehlt uns schlicht der Partner», bringts SGB-Sekretär Dani Nordmann auf den Punkt. In jüngster Vergangenheit haben die Gewerkschaften jedenfalls den Mangel an Gesprächsbereitschaft seitens der Unternehmer festgestellt – seis bei den Grossbanken oder bei Novartis. Neue Arbeitszeitmodelle – statt Massenentlassungen – vom Schweizerischen Bankpersonalverband oder von der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBl) landeten beim Management in irgendwelchen Schubladen. Auch hat der Kampf ums gescheiterte Arbeitsgesetz gezeigt, wie wenig die Schweizer Arbeitgeber von Sozialpartnerschaft halten.
Dabei lässt sich der Erhalt von Arbeits-plätzen mit den betriebswirtschaftlichen Erfordernissen eines Unternehmens durchaus in Einklang bringen. Für Professor Peter Ulrich vom Institut für Wirtschaftsethik der Uni St. Gallen enthält das neue VW-Modell jedenfalls den richtigen Ansatz, wie sich Arbeitsleistung partnerschaftlich der Arbeitslast in einem Betrieb anpassen lässt: «Der einzelne gewinnt Freiräume und gesteht auch der Firma Flexibilität zu.» Seitens des VW-Vorstandes träumt man nämlich von der «atmenden» Fabrik. Um «eng am Markt zu fahren», will das Unternehmen blitzschnell auf Auftragsschwankungen reagieren können.
Dafür braucht es flexible Arbeitnehmer – und da hilft das Modell: Wer fleissig Stunden scheffeln muss, wird willig am Band stehen, wenn der Auftragsbestand hoch ist. Und jeder muss sich beizeiten für mehr Wertschöpfung im Betrieb engagieren, denn das wird ihm später gutgeschrieben. Ist doch clever.
Für beide Seiten. Schliesslich haben die Sozialpartner bei VW schon einmal unter Beweis gestellt, dass am Schluss nicht die Arbeiter die Dummen sein müssen: Als die Konkurrenz vor drei Jahren Zehntausende von Arbeitsplätzen abbaute, erfand der Grosskonzern zusammen mit der IG Metall die Viertagewoche – ein Experiment, das heute europaweit kopiert wird. Nur vom Schweizerischen Arbeitgeberverband wurde es vorzeitig als «Bankrotterklärung des Managements» deklariert.
Zeit-Wertpapiere? Nie gehört
Da ist es nur logisch, dass man dort auch die neue Zeit-Wertpapier-Idee als reichlich exotisch betrachtet. Direktor Peter Hasler – der überhaupt erst durch die «Weltwoche» vom Modell erfuhr – findet das Projekt zwar «originell», hat jedoch sofort Bedenken. Dahinter stehe eine pessimistische Zukunftshaltung, nämlich die, «dass uns die Arbeit ausgeht. Das ist keine Botschaft für die Jugend.» Es gehe uns doch gar nicht so schlecht, jedenfalls müsse «der Leidensdruck bei uns viel grösser sein, bis man auf so etwas wie das VW-Modell eintritt».
Dies ist zumindest eine plausible Erklärung dafür, warum die Grossbanken und Novartis bei ihren Massenentlassungen von innovativen Lösungen wenig wissen wollen. Es ging und geht ihnen tatsächlich weit weniger schlecht als den Volkwagenwerken in Deutschland. Diese müssen die Produktivität weiter erhöhen, mittelfristig Kosten von 2 Milliarden DM einsparen und einen Personalüberhang von bald 18000 Arbeitern bewältigen.
Eine miese Lage ist allerdings noch lange keine Garantie für gute Lösungen. Sulzer-Rüti denkt jedenfalls über ein gar unternehmer-freundliches, sogenanntes «Batterie»-Modell nach, das praktisch das Gegenteil der VW-ldee darstellt: Bei Kurzarbeit würde der Betrieb nicht die Arbeitslosenkasse bemühen, sondern Stunden speichern – gäbe es wieder mehr zu tun, müsste die Belegschaft mehr arbeiten «auch mal 50 Stunden», skizziert Personalchef Thomas Enz das Ausmass. Nur kann das in der Betriebsrechnung bei mangelndem Auftragsbestand nicht aufgehen – es sei denn, die Belegschaft verzichtet in schlechten Zeiten auf einen wesentlichen Teil des Lohnes.
Dass die Arbeitnehmer in der Schweiz allerdings durchaus bereit sind, Lohnopfer zu bringen und damit Stellen zu erhalten, belegen Zahlen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung und eine Studie des SGB. Der Wert der Freizeit wird demnach zunehmend als Lebensqualität begriffen, die ihren Preis hat. «Doch mit der Nutzung dieses vorhandenen Potentials von rund einem Drittel tun sich die Firmen schwer», hat Toni Holenweger von der Beratergruppe Corso erfahren. Man verkenne die Komplexität des Problems. Während betriebsinterner Diskussionen würden Argumente fallen wie dieses: «Ich hatte auch mal eine Teilzeitsekretärin; die war dann nie da, wenn man sie brauchte.» Auch hapere es mit dem Image bei Teilzeitarbeit. Holenweger ist nun an einem entsprechenden Förderungsprogramm beteiligt, das in Deutschland unter der Bezeichnung «MobilZeit» bei 100 Firmen lanciert wurde und auch beim Kader greifen soll.
Eine Haifisch-Variante von Mobilzeit prüft man derzeit beim Schweizerischen Bankverein: Die Bänker wären nur noch zu einem Basislohn angestellt und müssten sich – nach dem Prinzip «Der Starke frisst den Schwachen» – ständig um die Mitarbeit an Projekten innerhalb der Firma neu bewerben. Dafür würden sie dann zusätzlich entlöhnt.