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Von den Grosseltern lernen

Wir essen zu schnell, zu süss, zu salzig und zu üppig. Und wir stehen immer seltener am Herd. Wir mögen Fleisch, vor allem Edelfleisch, und haben ein Gewichtsproblem. Unsere Grosseltern haben sich gesünder und «tierschonender» ernährt – allerdings nicht ganz freiwillig.

Von Vera Bueller / 5. Juni 2019

Von einer Revolution am Esstisch sprechen die einen, von einem grünen Wahn die anderen: Gemeint ist der Trend, weitgehend auf Fleisch zu verzichten oder sogar vegetarisch oder vegan zu leben. Eine Ernährungsart, die man schon vor über hundert Jahren praktizierte. Damals allerdings aus finanzieller Not: Das Luxuslebensmittel Fleisch gab es höchstens ab zu einmal als Sonntagsbraten, ansonsten standen Linsengerichte, Erbsen, Bohnen, Polenta, Vollkornbrot, Milch im Müesli, viel Käse oder auch Kartoffeln, Reis, Pasta und Gemüse auf dem Speiseplan.

Noch in den 50er Jahren habe die Essenzubereitung vorwiegend im häuslichen Umfeld stattgefunden, sei eine manuelle, zeitaufwändige Arbeit meist in den Händen der Frauen gewesen. «Es gab wenig vorgefertigte Produkte, man kochte, was im Garten wuchs, was es lokal zu kaufen gab. Die Auswahl war also vorwiegend saisonal, danach richtete sich der Speiseplan», sagt Christine Brombach, Professorin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Dadurch hätten unsere Grosseltern eigentlich den heutigen Ernährungsempfehlungen entsprechend gehandelt: den Käse/Milch- und Fleischkonsum senken, den Anteil an Hülsenfrüchten und Gemüse erhöhen.

Frauen legen mehr Wert auf die Ernährung

Ob die Grosseltern wegen ihrer Ernährungsweise auch gesünder waren, lässt sich schwer sagen. Schliesslich wurden damals die Gesundheitsdaten nicht wie heute erhoben hat. «Es geht letztlich immer um eine ausgeglichene Zufuhr von Nährstoffen und Energie, also um eine ausgeglichene Bilanz von Bedarf und Aufnahme», präzisiert Christine Brombach. Heute gebe es diesbezüglich grosse Unterschiede je nach Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung. So legten Frauen mehr Wert auf den Gesundheitsgehalt der Nahrung, würden mehr Obst, Gemüse, Milcherzeugnisse, Vollkorn- und Diätprodukte verzehren. «Männer essen hingegen mehr Fleisch und trinken mehr Alkohol.» Was aber generell gelte: Übergewicht nehme zu, die körperliche Aktivität ab.

Seit dem zweiten Weltkrieg wird das Essverhalten der Schweizer Bevölkerung wissenschaftlich erhoben. Heute erfolgt dies primär aufgrund der nationale Ernährungserhebung «menuCH» durch das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG). Damit werden auch das Trink- und Kochverhalten sowie die Bewegungsgewohnheiten der Schweizer Bevölkerung erfasst.

Zu viel Fleisch

Der Stand gemäss «menuCH»: Es wird bei weitem mehr Süsses und Salziges konsumiert als empfohlen. Der Anteil an Ölen, Fetten und Nüssen entspricht ungefähr den Empfehlungen, während die Bevölkerung zu wenig Milchprodukte wie Joghurt und Käse, Hülsenfrüchte sowie Früchte und Gemüse esse. Von einem veganen Leben ist man in der Schweiz weit entfernt: Der Anteil jener, die sich vegetarisch oder vegan ernähren, liegt bei lediglich 5 Prozent. Fleisch wird generell noch zu viel verzehrt, zunehmend Edelfleischstücke. Heute sind es im Durchschnitt 52 Kilogramm Fleisch pro Jahr und Kopf – das sind immerhin rund 20 Kilo weniger als noch 1987. Weltweit steigt der Konsum von Fleisch aber weiter, Agrarexperten rechnen bis 2050 mit einer Verdoppelung.

Trendsetter bei den pflanzlichen Nahrungsmitteln sind derzeit Hülsenfrüchte, Dinkel und Olivenöl. Bei den tierischen Erzeugnissen scheinen ebenfalls die als gesund geltenden Nahrungsmittel wie Fische oder Geflügelfleisch an Bedeutung zu gewinnen, während Schweinefleisch in den letzten Jahren an Beliebtheit eingebüsst hat. Hoch im Kurs liegen Avocados und Beeren sowie Quinoa. Generell scheinen sich auch tropische und subtropische Früchte steigender Beliebtheit zu erfreuen, während Äpfel, Trauben oder Orangen eher stagnieren.

Die neuesten Ergebnisse von «menuCH» für 2017 zeigen ausserdem, dass sich 71 Prozent der Befragten am Mittag ausser Haus verpflegen und jüngere Personen öfter als ältere Personen selber kochen – vor allem abends. Fürs Kochen werden durchschnittlich 38 Minuten pro Mahlzeit aufgewendet. Convenience-Produkte vereinfachen dabei das «Kochen».

Geburtsland spielt eine Rolle

Dass die Qualität der Ernährung von den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln abhängt, zeigt eine Studie des Schweizerischen Nationalfonds. Sie kommt zum Schluss, dass die Ernährungsgewohnheiten von Personen mit einem hohen Ausbildungsstand und Einkommen der mediterranen Diät, die vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Übergewicht schützen soll, am nächsten kommt. Aber auch das Geburtsland spielt eine Rolle. Trotz ihres niedrigeren sozioökonomischen Status haben Einwanderer aus Italien, Portugal und Spanien die mediterrane Ernährung beibehalten und essen gesünder als Menschen, die in Frankreich oder der Schweiz geboren wurden.

Dennoch werden sie nicht annähernd so viel für Nahrungsmittel ausgeben wie Arbeiter Ende des 19. Jahrhunderts. «Damals gab eine Arbeiterfamilie durchschnittlich 62 Prozent des Haushaltbudgets für die Ernährung aus. 1950 war es weniger als ein Drittel; heute sind es noch zehn Prozent», weiss der Historiker Jakob Tanner. «Die Lebensmittel sind heute einfach zu preiswert», meint dazu Christine Brombach. «Sie sind im Übermass vorhanden, jederzeit rund um die Uhr verfügbar, unabhängig von der Saison ist alles da. Ein Schlaraffenland, das auch zum Wegwerfen von Lebensmitteln verführt. Hat die Banane einen Flecken, wird sie weggeworfen, Brot vom Vortrag vergeudet. Das war vor 60 Jahren undenkbar!» Der Massenmarkt und die Anonymisierung der Herstellung liessen vergessen, wie viel Mühe, Arbeit, Rohstoffe und auch Ressourcen in Lebensmitteln drinsteckten.

Essen ist Lifestyle und Statement

Für viele ist Essen heute auch ein Ausdruck von Individualität: Wir lesen Ernährungsbücher, stellen Fotos unseres Mittagessens auf Instagram oder Facebook und kaufen Salze aus dem Himalaja. Ob Slow Food, regionale Küche, Intervallfasten – Essen ist für viele sowohl Lifestyle als auch ein Statement. «Über das Essen oder Nicht-Essen von Lebensmitteln drücke ich aus, wer ich bin oder sein möchte. Ausserdem scheint die Beschäftigung mit dem Essen eine Art von Expertise auszudrücken, die nach aussen sichtbar wird nach dem Motto: “schau, was ich zubereiten kann, was ich esse!”. Ich drücke meinen sozialen Status darüber aus», meint Christine Brombach.

Die Professorin warnt aber auch: «Wenn alle Menschen auf der Welt sich so ernähren würden wie wir in der Schweiz und in der westlichen Welt, hätten wir in wenigen Jahren alle verfügbaren Ressourcen des Globus aufgegessen und unsere Nachkommen hätten nichts mehr übrig.» Jakob Tanner hat es ausgerechnet: Gemessen an dem, was die Schweiz heute an Lebensmittel konsumiere und Ressourcen verbrauche, müsste das Land eigentlich fünf Mal grösser sein.

Link menuCH: www.blv.admin.ch/blv/de/home/lebensmittel-und-ernaehrung/ernaehrung/menuch.html

Der Text ist auch erschienen im «Beobachter»

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