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Von der Angst vor etwas, das wahrscheinlich nicht eintrifft

Screenings und Test zur Früherkennung von Krebs sind weit verbreitet. Dabei wäre es wichtig, deren Nutzen und Schaden zu kennen. Aber wir tun uns schwer mit der Einschätzung von Risiken. Und mit Schlagzeilen über Krebsgefahren werden Ängste geschürt.

Von Vera Bueller / 23. Oktober 2022

Im Oktober 2015 löste die Weltgesundheitsorganisation (WHO) unter Fleischessenden und Metzgern Panik aus: Wer täglich 50 Gramm verarbeitete Fleischwaren wie Wurst verspeise, teilte sie mit, habe ein um 18 Prozent höheres Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, als diejenigen, die auf solches Fleisch verzichten. Und wie gefährlich lebt jemand, der täglich gar 100 Gramm Salami, Schinken und Leberpastete isst? Ist das Risiko dann 36 Prozent höher ein Karzinom zu bekommen? Und was bedeuten die Zahlen überhaupt? Werden 18 von 100 Fleischessern krank, was ja fast jeder und jede Fünfte wäre?

Solche Zahlen und Statistiken sind nicht völlig falsch, aber irreführend. Das erkennt man sofort, wenn man weiss, dass von 100 Menschen 5 in ihrem Leben irgendwann Darmkrebs bekommen. Von 100 Fleischessern sind es ein wenig mehr, nämlich 5,9. Das absolute Darmkrebsrisiko ist für Wurstliebhaber und Aufschnitt-Freundinnen somit 0,9 Prozent höher. Von 100 Menschen werden 6 statt nur 5 krank. Und woher kommen dann die 18 Prozent höheres Risiko der WHO? «Es handelt sich dabei um ein relatives Risiko, bei dem die Steigerung von 5,9 Prozent gegenüber den 5 Prozent tatsächlich 18 Prozent beträgt», präzisiert der Psychologe Gerd Gigerenzer, seit 2020 Direktor des Harding­Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, vormals Direktor am Max­Planck­Institut für Bildungsforschung.

Der Wissenschaftler ist überzeugt: «In unserer Gesellschaft herrscht eine Art Analphabetismus im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und Risiken». Nicht selten würden mit Schlagzeilen, wie die von den 18 Prozent Darmkrebs-Risiko, irrationale Ängste geschürt. Bei genauem Hinsehen bleibe aber oft wenig Angstmachendes übrig. Gerade in der Medizin: «Viele Patienten sind ratlos, wenn sie Diagnosen mit Wahrscheinlichkeiten erhalten. Was bedeutet ein erhöhtes Risiko von 50 Prozent?» Man sollte vom Arzt stets absolute Zahlen verlangen. Etwa so: «Von hundert Patienten, die ein bestimmtes Medikament nahmen, sind wie viele gestorben? Und wie viele von denen, die es nicht nahmen?»

Um über die Tücken der Statistik aufzuklären, hat Gerd Gigerenzer zusammen mit zwei Wissenschaftskollegen die Akion «Unstatistik des Monats» ins Leben gerufen: Im Internet hinterfragen sie jeden Monat einen Fall jüngst publizierter Zahlen und deren Interpretationen in den Medien – thematisch breit gefächert.

Screening bei Personen ohne Symptome

Angst ist ein schlechter Ratgeber. Das gilt besonders in der Medizin. Als besonders perfide empfindet es der Psychologe Gerd Gigerenzer, «wenn Ängste von Patientinnen aktiviert werden, ohne ihnen die medizinischen Fakten zu erklären». Etwa wenn es um Screening zur Früherkennung von Brustkrebs geht. Wobei nicht grundsätzlich von solchen Untersuchungen abgeraten wird. Aber Gigerenzer kämpft darum, dass Menschen über Nutzen und Schaden in verständlicher Weise aufgeklärt werden, so dass sie sich selbst – gut informiert – entscheiden können statt emotionalem Druck ausgesetzt zu sein: «Unsere Studien zeigen, dass die meisten Frauen und Männer den Nutzen und den Schaden solcher Massentests nicht kennen.»

Er liefert ein Beispiel: Eine vierzigjährige Frau geht zur Mammografie-Untersuchung. Zwar gibt es keinerlei Hinweis, dass sie Brustkrebs hat, aber sie möchte sicher gehen. Der Arzt findet etwas Verdächtiges. Wie gross ist nun die Wahrscheinlichkeit, dass die Frau tatsächlich Brustkrebs hat? Am Beispiel von hundert Frauen sieht das so aus: Sie alle gehen zu einer Reihen-Untersuchung, und eine von ihnen hat tatsächlich Krebs. Aber von den 99 Gesunden erhalten ebenfalls neun einen verdächtigen Befund – das nennt man falsch-positive Ergebnisse. Die meisten der beunruhigenden Befunde sind also falsch. Auch der Nutzen des Mammographie-Screenings ist den meisten Frauen nicht bekannt. Studien zeigen: Ohne Screening sind nach zehn Jahren 5 von je 1.000 Frauen an Brustkrebs gestorben; bei den Frauen mit Mammografie waren es 4. «Anstatt den Frauen das ehrlich zu erklären, hat man ihnen über Jahre hinweg gesagt, dass Mammografie-Screening die Brustkrebssterblichkeit um 20 Prozent reduziert. Viele Frauen denken deshalb, dass 200 von 1000 Frauen weniger an Brustkrebs sterben – und nicht nur eine.»

Ein ähnliches Problem kennen die Mediziner auch von einer anderen Krebsart, die völlig harmlos verlaufen kann. Etwa 85 Prozent aller Männer mit Prostatakrebs sterben mit dem Krebs, aber nicht durch ihn. Ohne Prostata-Screening starben nach 13 Jahren etwa 0,6 Prozent der Männer an Prostatakrebs. Unter jenen, die sich einem Screening unterzogen, starben rund 0,5 Prozent. Absolute Risikoreduktion: 0,1 Prozentpunkte (die relative 20 Prozent).

Die Folge der Überdiagnosen

Die Prostatakrebs-Früherkennung führt in vielen Fällen dazu, dass Männer behandelt wurden, obwohl ihnen der Krebs zeit ihres Lebens keine Probleme bereitet hätte. Wird aber bei einem Screening etwas gefunden, lassen sie sich meistens operieren. Die häufige Folge: Impotenz oder Harninkontinenz. Trotzdem sind die betroffenen Männer oft überzeugt, das Screening habe ihnen das Leben gerettet. Auch hier plädiert Gerd Gigerenzer für mehr Information: «Je älter Männer werden, desto mehr haben irgendeine Form von Prostatakrebs. Aber nur die wenigsten sterben daran. Würde man alle Männer regelmässig testen, und alle nicht-progressiven Krebse operieren oder mit Strahlen behandeln, hätten wir Massen von inkontinenten und impotenten Männern.»

Wenn im Laufe von zehn Jahren von 1000 Frauen ein Leben aufgrund einer Mammografie gerettet wird, ist das für die direkt Betroffene natürlich relevant. Aber alle falsch positiv diagnostizierten Frauen müssen mit der Angst leben, erkrankt zu sein und weitere Diagnostik sowie unnötige Überbehandlungen wie Bestrahlung oder Chemotherapie bis zur teilweisen oder vollständigen Brustentfernung über sich ergehen lassen. «Mammografie ist kein besonders zuverlässiger Test, und wer regelmässig daran teilnimmt, muss irgendwann mit einem falschen Alarm rechnen», sagt Gerd Gigerenzer.

Ähnlich problematisch und unzuverlässig ist die Eierstockkrebs-Früherkennung: Von je 100 Frauen, die ein verdächtiges Ergebnis im Ultraschall und Bluttest erhalten, haben 94 (!) keinen Eierstockkrebs. Aber 32 von diesen 100 Frauen werden unnötig einer oder beide gesunden Eierstöcke entfernt.

Früherkennung ist keine Vorsorge

Mit Ungewissheit leben zu lernen, stellt eine grosse Herausforderung dar und die Menschen haben viele Methoden erfunden, um sie zu verdrängen: «Wir versichern uns gegen alles, schwören auf Horoskope, beten zu Gott und sammeln Terabytes von Informationen, um unsere Computer in Kristallkugeln zu verwandeln. Statt Illusionen der Gewissheit zu schaffen, sollten wir den Mut fassen, den Risiken ins Auge zu sehen, sie richtig einzuschätzen und selbst Verantwortung zu übernehmen», sagt Gerd Gigerenzer.

Viele Frauen glauben etwa, dass die Mammografie die Wahrscheinlichkeit senkt, Krebs zu bekommen. Doch dem ist nicht so. Früherkennung erkennt nur Krankheiten, die bereits vorhanden sind. Die beste Waffe gegen Krebs sei dagegen echte Vorsorge, die darin bestehe, junge Menschen zu bilden und sie in die Lage zu versetzen, ihren Lebensstil selbst in die Hand zu nehmen. Etwa 20 bis 30 Prozent der Krebsfälle sind durch Rauchen bedingt, 10 bis 20 Prozent durch Fettleibigkeit, und bei Männern 10 Prozent durch Alkoholmissbrauch. «Wenn wir das in den Griff bekommen, könnten wir etwa die Hälfte aller Krebsfälle verhindern.»

Harding-Zentrum für Risikokompetenz, Faktenbox: www.hardingcenter.de Unstatistik des Monats: www.hardingcenter.de/de/transfer-und-nutzen/unstatistik-des-monats

Der Artikel ist auch erschienen im «Beobachter»

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