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 Gesundheitswesen:
Sparen auf Kosten der Patienten

 

VON VERA BUELLER

«Bitte verlassen Sie mich nicht!», steht in kritzeliger Schrift auf dem Kärtchen, das dem Weihnachtsstern beiliegt. Der Arzt Hubert Fässler hat das Geschenk aus traurigem Anlass erhalten: Er musste seiner Patientin, der 87jährigen Silvana Ferrari* mitteilen, dass er sie künftig nur noch einmal pro Monat zu Hause besuchen könne. Die Frau lebt einsam und arm in Chiasso. Sie leidet an den üblichen Altersbeschwerden und ist eine von rund 40 Patienten, die Hubert Fässler regelmässig daheim besucht. «Würde ich das nicht machen, wären die meisten von ihnen längst im Altersheim. Dann würde santésuisse jubeln.» 

Santésuisse? Das ist die Dachorganisation der Krankenkassen. Und sie ist es, die den Patienten von Hubert Fässler das Leben schwer macht: Santésuisse wirft dem Arzt vor, er wende für den einzelnen Patienten zu viel Zeit auf und verursache dadurch zu hohe Kosten. Er müsse deshalb 45‘000 Franken an den Verband der Krankenkassen zurückzahlen und bei der Betreuung der Patienten künftig sparen. Nicht nur er: 30 Ärzte haben im Tessin einen entsprechenden Brief mit teils immensen Rückzahlungsforderungen erhalten.

Der Verband beruft sich dabei auf eine Regelung im Krankenversicherungsgesetz, wonach jeder Arzt seine Leistungen auf ein Mass beschränken muss, «das im Interesse der Versicherten liegt und für den Behandlungszweck erforderlich ist». Grundsätzlich gilt: Ärzte, die pro Patient einen Aufwand betreiben, der 30 Prozent über dem Durchschnitt seiner Fachkollegen liegt, werden gemassregelt und je nach Situation zu Rückzahlungsforderungen verknurrt – manchmal endet des Verfahren auch vor Gericht.

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Bundesgericht gegen Ärzte

Bisher mit wenig Erfolg für den Arzt: Das Eidgenössischen Versicherungsgericht hat die Position der Krankenkassen gestärkt und entschieden, dass bei der Berechnung des Aufwandes sogar Drittkosten zu berücksichtigen sind – wie beispielsweise Medikamente, die der Arzt verordnet hat. Denn die Wirtschaftlichkeit einer Praxis, sagt das Gericht, beschränke sich nicht allein auf die ärztlich erbrachten Leistungen, sondern schliesse die Kosten für veranlasste Analysen und Therapien sowie Medikamente mit ein.

Deshalb hing ab Herbst letzten Jahres in der Praxis von Doktor Fässler ein kleines Plakat auf dem stand: «Aus logistischen Gründen ­– wegen eines Verbots seitens der Krankenkassen – können bis Ende Jahr keine Physiotherapien mehr verschrieben werden.» Das habe er seinen Patienten kaum erklären können und jeweils den folgenden Vergleich angeführt: «Stellen Sie sich vor, die Migros darf pro Jahr nur eine bestimmte Menge Fleisch verkaufen. Im Oktober ist das Kontingent aber bereits aufgebraucht, weil die Kunden zu viel Fleisch gekauft haben.» Dann gäbe es ab Oktober bei der Migros halt kein Fleisch mehr. Die Lösung: Man schickt die Kunden zum Metzger, der als Fleischfachmann ein grösseres Kontingent hat.

Ein solches Outsourcing  beispielsweises eines Patienten mit Rückenschmerzen kommt die Krankenkasse letztlich allerdings teurer zu stehen, als wenn der Hausarzt direkt eine Physiotherapie verschreiben würde. Aber auch die Behandlungsmöglichkeiten des Spezialisten sind beschränkt. So hat ein junger Onkologe (Krebsfachmann) in Lugano eine für ihn ruinöse Rückzahlungsforderung von einer Million Franken erhalten. Der Grund für seine hohen Behandlungskosten lässt sich leicht erklären: In seine frisch eröffnete Praxis kamen ausschliesslich akut erkrankte Krebspatienten, die teure Medikamente und Therapien benötigten. Doch santésuisse hat die von ihm verursachten Kosten mit den Ausgaben der übrigen sechs Onkologen im Tessin verglichen, die vor allem auch günstige Kontrollen durchführen. «Ein unzulässiger Vergleich», meint der wegen des laufenden Gerichtsverfahrens nicht namentlich genannt sein wollender Arzt. 

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Fragwürdige Kriterien

Santésuisse-Pressesprechers Peter Marbet betont nun aber, dass «Besonderheiten im statistischen Filter berücksichtigt sind und die Überprüfungen in den meisten Kantonen problemlos ablaufen». Zumindest was den Kanton Zürich betrifft, scheint er Recht zu haben: Hier wird jeder Fall gemeinsam mit zugezogenen Experten untersucht. Es werden dann, falls notwendig, für die Zukunft Richtwerte festgelegt, die der Arzt einhalten sollte – bis zu zwei Jahre hat er Zeit, seine Strukturen anzupassen. Im Tessin wurden hingegen sofort ultimativ Rückzahlungen gefordert.

Auch blieb hier bislang unklar, welche statistischen Kriterien für die Berechnung angewendet wurden und wie zuverlässig die Durchschnittswerte sind.  So reichen die meisten Patienten eine Arztrechnung erst dann bei ihrer Krankenkasse ein, wenn sie die Jahresfranchise übersteigt. Also fehlen diese «billigen» Patienten in der Statistik eines Arztes, der besonders günstig arbeitet. Bei Hubert Fässler verursacht ein Drittel seiner Patienten Kosten, die pro Jahr unter 300 Franken liegen.

Die Tessiner Ärzte fordern nun die Anwendung des Zürcher Systems auch in ihrem Kanton und haben sich zur Selbsthilfegruppe «300 medici per la libertà» zusammen geschlossen. Denn auffallend ist: Während in der übrigen Schweiz nur gerade 0,8 Prozent aller Ärzte Gelder an santésuisse zurück zahlen müssen, sind es im Kanton Tessin fast zehn Prozent. «Santésuisse hat so getan, wie wenn wir alles Diebe wären», stellt der Präsident der kantonalen Ärztegesellschaft, Franco Denti, fest. Dabei habe das Problem offensichtlich in der personellen Zusammensetzung der Tessiner Sektion von santésuisse gelegen, «weil null Gesprächsbereitschaft geherrscht hat. Und das Gesetz wurde zu restriktiv, ja sogar falsch angewendet», sagt Denti.

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Versteckte Rationierung

So wurde im Tessin plötzlich das Kriterium der «zu vielen Stunden» angewendet: Hubert Fässler soll im Jahr 2005 statt 2000 Stunden 2200 Stunden gearbeitet haben. Selbst in der Zentrale von santésuisse in Solothurn wird zugegeben, dass eine Berechnung nach Stunden statt nach Leistung nicht zulässig sei: «Das ist vom Tisch», stellt Mediensprecher Peter Marbet klar. Mit dem Kantonalverband der Tessiner Ärzte soll denn auch eine Vereinbarung getroffen worden sein, wonach die Kosten ab 2007 von neuen Leuten überprüft würden. Dies gilt aber nicht für die Kontrollen früherer Jahre.    

Und grundsätzlich ändert sich ohnehin nichts: Die Gruppe «300 medici» sieht hinter dem Vorgehen von santésuisse eine versteckte Rationierung von Leistungen und «wir fürchten, unseren Beruf nicht mehr standesgemäss sondern nur mehr statistisch korrekt  ausführen zu können», wie die Magen-Darm-Spezialistin und Vertreterin der Selbsthilfegruppe, Helen Schaufelberger, sagt. Dies könnte im Einzelfall sogar Haftpflichtklagen von unterversorgten Patienten zur Folge haben.  So musste sich Hubert Fässler unlängst gegenüber dem Tessiner Kantonsarzt rechtfertigen, warum er bei einer jungen Frau mit erhöhten Leberwerten weder eine HIV-, noch eine Hepatitis B-/C-Analyse hat machen lassen. Die Frau hatte, wie sich später heraus stellte, Hepatitis. Hubert Fässler dazu: «Die vom Kantonsarzt verlangte Laboruntersuchung kostet 800 Franken. Wenn ich das jedesmal machen lasse, wenn ein Patient erhöhte Leberwerte hat, kostet es ein Vermögen.» Allein letzte Woche wären es sechs Patienten gewesen  – macht 4800 Franken.

Künftig dürfte sich manch ein Arzt deshalb überlege, «ob er sich Patienten mit teuren Krankheiten noch leisten kann», meint Fässler. Und er erzählt von einem 85jährigen ehemaligen Patienten, der in eine andere Region des Tessins zog. Ein Langzeitkranker, der  täglich acht verschiedene teure Medikamente einnehmen muss. «Zusammen mit seinen Verwandten habe ich während Monaten nach einem Arzt gesucht, der endlich bereit war, den Patienten zu übernehmen.» Und er schliesst mit der Bemerkung: «Passen Sie auf: Wenn Sie mal alt und krank sind, finden Sie keinen Arzt mehr!»

*Name geändert.

Januar 2008

siehe auch: www.consano.ch,  unabhängigen Verein für eine «faire und soziale Medizin in der Schweiz»

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