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 Atomkraftwerksicherheit:
Hirngespinste oder tragbares Risiko?

 

VON VERA BUELLER

 Vor sechs Jahren hat das Bundesamt für Zivilschutz die möglichen Folgen eines Kernschmelzunfalls in einem Atomkraftwerk - typisch schweizerisch - monetarisiert: 100'000 physisch Geschädigte (100-200 Milliarden Franken), 1 Million Evakuierte (10 Milliarden Franken), 100'000 Unterstützungsbedürftige (1 bis 10 Milliarden. Franken), 20'000 Quadratkilometer geschädigte Lebensgrundlagen (4000 Milliarden Franken), Sachschäden von 100 Milliarden Franken. Das ergibt eine totale Schadensumme von 4200 bis 4300 Milliarden Franken - da wäre es zweifelsohne billiger, die AKWs vorher abzustellen.

Anlass dafür hätte es aus Sicherheitsgründen längst gegeben. Denn Terrorakte auf einen Reaktor sind nicht erst seit dem Anschlag auf das World Trade Center keine Fiktion mehr. Gegenüber dem ARD-Fernsehmagazin "Monitor" erklärte jedenfalls Paul Leventhal, Chef des Nuclear Control Institute in Washington: Bereits seit Mitte der 80er-Jahre habe er weltweit auf diese Gefahr hingewiesen. Doch solche Warnungen seien von den Politikern systematisch ignoriert oder unter Verschluss gehalten worden. top

Paranoide Hysterie

Auch in der Schweiz wurden Sabotage- Szenarien stets als paranoide Hysterie einiger AKW-Gegner abgetan. Selbst nach den Kamikaze-Anschlägen vom 11. September war dies noch der Fall: Fast eine Woche lang behauptete Wolfgang Jeschki, der Direktor der Bundesaufsichtstelle für Atomanlagen (HSK), dass "keine Schäden, die die Bevölkerung der Umgebung beeinträchtigten" zu befürchten seien.

Zwischenzeitlich studierten jedoch Spezialisten der HSK - gemäss eigener Presseerklärung - die Baupläne der Schweizer Atommeiler. Und sie desavouierten ihren Direktor: "Kernkraftwerke (weltweit) sind aus bautechnischer Sicht nicht gegen die Auswirkungen kriegerischer Einwirkungen und terroristischer Angriffe aus der Luft geschützt." Ende September tagten daraufhin die Verantwortlichen des Bundes und die Betreiber der Schweizer Atomkraftwerke. Es wurden Szenarien besprochen und ein "Vorgehensplan" vorbereitet. Doch welches Vorgehen ist überhaupt möglich? Da technische Nachrüstungen nichts bringen - so das Fazit der von der HSK-Spezialisten - kommen nur eine verschärfte Objektsicherung, mehr Patrouillengänge, ein erweitertes Alarmkonzept und die Einschränkung von AKW-Besichtigungen in Frage. Zu Einzelheiten allfälliger neuer Schutzmassnahmen äussert sich - unter Hinweis auf Sicherheitsgründe - keiner der Beteiligten. Für den stellvertreten HSK-Direktor Ulrich Schmocker ist jedoch eh klar, dass es gegen Terrorismus nie einen hundertprozentigen Schutz geben kann. Er und das Bundesamt für Energie folgern aus dieser trivialen Erkenntnis: "Sofortmassnahmen drängen sich nicht auf". Weitere Schritte würden bis Ende Jahr in Arbeitsgruppen definiert und geprüft. Bloss kein Aktivismus! top

Notfalls die Verfassung ändern

In Deutschland beurteilt man den Ernst der Lage etwas anders: Ein neu zu schaffender Nationaler Sicherheitsrat wird bereits geprüft, der koordinierend wirken soll. Dazu will man notfalls gar die Verfassung ändern. Und Baden-Württembergs Innenminister Thomas Schäuble hat bis auf weiteres alle Atomtransporte gestoppt. Ein Atomtransport aus dem AKW Mühleberg konnte die Schweiz dagegen ungehindert verlassen.

Jetzt, nach den Anschlägen in Amerika, ist die Atomdebatte allerdings auch bei uns neu lanciert. Es liegen auch schon Forderungen der Atomkraftwerk-Kritiker auf dem Tisch: Die Frage des AKW-Risikos müsse angesichts der anstehenden Revision des Kernenergiegesetzes und vor der Volksabstimmung über die Initiativen "Strom ohne Atom" sowie "MoratoriumPlus" in einer breiten und öffentlichen Risikodebatte grundlegend neu beurteilt werden. Die Bewegung "Strom ohne Atom" verlangt vom Bundesrat einen umfassenden Bericht zum Atomrisiko und basierend darauf eine Neubeurteilung ihrer beiden Volksinitiativen.

SP-Nationalrat Rudolf Rechsteiner hat dazu eine Motion verfasst, die das Abschalten der AKWs zum Ziel hat. Seine Argumentation basiert auf der Eintretenswahrscheinlichkeit einer Katastrophe, die nach dem 11. September neu berechnet werden müsse: Der Absturz einer Passagiermaschine auf einen Atomreaktor wurde bisher mit der Wahrscheinlichkeit von eins zu zehn Millionen als sehr gering eingeschätzt. Beabsichtigte Flugzeugabstürze hat man dabei gar nicht berücksichtigt. Auch keine anderen Terrorakte. Laut Untersuchungen des Sandia National Laboratory müssen aber Lastwagen-Bomben (wie in Oklahoma gezündet) nicht einmal auf dem Kraftwerksgelände selber zur Explosion gebracht werden, um Kühlung und Notkühlung von Atomreaktoren ausser Funktion zu setzen.

Norm wird nicht erfüllt

Bei der Genehmigung der Schweizer AKW-Anlagen ist man von solchen Gefahren also nicht ausgegangen. Gemäss HSK-Richtlinie R-11 ist ein Atomkraftwerk jedoch so auszulegen, "dass bei einem Unfall nach konservativer Berechnung für Einzelpersonen der Bevölkerung in der Umgebung keine höhere Dosis als 100 MilliSievert erwartet wird." Diese Norm wird heute, wie Rechsteiner betont, von keinem einzigen Schweizer AKW mehr erfüllt: "Deshalb entspricht die rasche Schliessung der A-Werke der bundesrätlichen Logik."top

Ein hohes Risiko bergen auch die Zwischenlager bei den Kraftwerken, die Atomtransporte - vor denen mittlerweile auch die Internationalen Atomenergie-Agentur IAEA warnt - und die Wiederaufbereitungsanlagen. Jene im französischen La Hague etwa sei nur auf den Absturz einer kleinen Cessna ausgelegt, sagt Mycle Schneider, Leiter des atomkritischen World Information Energy Service. Und ein Anschlag würde die Katastrophe von Tschernobyl um ein Vielfaches übertreffen: Selbst das kleinste Abkühlbecken enthalte 67-mal mehr radioaktives Cäsium als damals freigesetzt wurde, heisst es in einer Studie der Expertengruppe Wise-Paris für das europäische Parlament.

Über 100 Länder lagern und transportieren heute radioaktives Material. Dieses ist - vor allem in Russland - vor missbräuchlichen Zugriffen zu wenig geschützt. Greenpeace verweist auf 181 relevante Vorfälle, die allein im vergangenen Jahr von den Behörden weltweit registriert wurden - bei einer beträchtlichen Dunkelziffer. Und in einem Bericht der UNO zuhanden der IAEA wird geschätzt, dass 130 terroristische Organisationen über die Möglichkeit verfügen, an teils bombenfähiges Material zu gelangen. 5 Kilo Plutonium oder 15 Kilo hochangereichertes Uran reichen, um eine Hiroshima-Bombe herzustellen.

Risiko = Wahrscheinlichkeit x Tragweite ?

Sind solche Schreckensszenarien paranoide Hirngespinste oder ein tragbares und hinnehmbares Restrisiko? Eines scheint nach dem 11. September klar: Die klassische Formel "Risiko = Wahrscheinlichkeit x Tragweite" kann nicht der Weisheit letzter Schluss sein. Ereignisse von sehr grosser Tragweite dürften vielmehr gar nicht erst akzeptiert werden. Auch dann nicht, wenn die Eintretenswahrscheinlichkeit äusserst gering ist. Wie wenig gering sie ist, zeigt eine Recherche des Fernsehmagazins Spiegel-TV: Auf einer Liste von Studenten, die das deutsche Atomkraftwerk Stade im Mai besucht haben, wurde der Name Mounir El Motassadeq entdeckt. Er gehört zum fundamentalistischen Umfeld der Attentäter von New York.top

Oktober 2001