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 Verkaufsstrategie:
Die Alten im Visier

 

VON VERA BUELLER

 Im Preis von 199 Franken pro Person war nicht nur ein «reichhaltiges bayrisches Mittagessen», sondern auch gleich der ganze «malerische Böhmerwald» mit inbegriffen. Nelly Frunz und ihre Freundin, zwei ältere Damen, buchten und bezahlten die von Zumstein Reisen in Baden angebotene viertägige Car-Fahrt nach Prag. Und am 12. Juli warteten die beiden reiselustigen Frauen um 6.50 Uhr beim Hotel Linde in Baden auf ihren Car. Doch der kam nicht. Die Veranstalter hatten die Reise kurzerhand abgeblasen, ohne allerdings die beiden Damen zu informieren oder ihnen das Geld zurückzugeben.
Das Verhalten von Zumstein Reisen ist kein Einzelfall. Immer wieder werden ältere Menschen hereingelegt, spekulieren Geschäftemacher mit der Unerfahrenheit Betagter. Sie gehen davon aus, dass diese Menschen sich in der Regel ohnehin schlecht zu wehren wüssten.

Vor allem aber ist die Zielgruppe der alten Menschen ein riesiger neuer Markt. Das Bild von grau und müde da hockenden Alten gehört definitiv der Vergangenheit an: Menschen zwischen 55 und 75 Jahren sind konsumfreudig und aktiv, bilden sich weiter, gehen auf Reisen und kaufen sich schicke, moderne Kleider. Dies jedenfalls behauptet die so genannte 50plus-Studie vom Institut für Marketing und Handel der Universität St. Gallen.

Das frei verfügbaren Einkommen beträgt bei sämtlichen Haushalten 581 Franken pro Monat und Kopf, bei den «50plus»-Haushalten aber 618 Franken; insgesamt verfügt die 50plus-Generation über jährlich 15 Milliarden Franken, so die Studie zum Kauf- und Konsumverhalten.top

Alt gleich reich?

Trotzdem wäre die Schlussfolgerung «alt gleich reich» falsch, da nach wie vor ein Teil der älteren Menschen finanziell stark eingeschränkt lebt. Und: Wie jeder boomende Markt kennt auch derjenige der neuen Alten seine Verlierer. Es sind diejenigen, die von der technologischen Entwicklung überrollt worden sind, die ratlos vor dem Billettautomaten der städtischen Verkehrsbetriebe stehen oder minutenlang den Münzeinwurf bei den neuen öffentlichen Telefonapparaten suchen. Es sind auch diejenigen, die auf Grund ihres Alters länger brauchen, bis sie etwas begreifen, die schnell verwirrt sind.

Mit dieser Verwirrung älterer Menschen rechnen viele Schlitzohrige. Zum Beispiel ein Antiquitätenhändler, der landesweit in Inseraten anbietet, alte Möbel, Bilder und Teppiche zu kaufen. «Er kam dann abends, als meine alte Mutter müde war und ihre Ruhe haben wollte. Dann räumten er und seine Leute das Haus fast leer», berichtet Tochter Christine Smit. Wertvolle Familienerbstücke, über die ihre Mutter gar nicht mehr habe verfügen können, seien so «für einen Apfel und ein Ei» weg gegangen. Der Anwalt der Tochter musste nach einer erfolglosen Verhandlung vor dem Friedensrichter die Waffen strecken, weil sich die Mutter an nichts mehr richtig erinnern konnte.

Wie oft bei älteren Menschen, scheitert die Feststellung des Sachverhaltes am Erinnerungsvermögen. Oder aber die Betroffenen schämen sich im nachhinein, dass sie Fehler der eigenen «Blödheit» zuschreiben müssen. Da legen ältere Leute ihr Geld falsch an, schliessen am Telefon unbeabsichtigt einen mündlichen Vertrag mit Econophon oder einem der anderen Telefonanbieter ab, kaufen an der Haustür hundert Rollen WC-Papier, einen viel zu teuren «porentief rein saugenden» Staubsauger oder gar eine Lederjacke «aus Mitleid mit dem ach so netten Verkäufer», wie Sozialarbeiterin Bea Baltensberger, Leiterin des Pro Senectute Treuhand-Dienstes in Winterthur, schildert. Sie erzählt, wie ältere Personen plötzlich glaubten, sie müssten eine gewonnen Million abholen, wie sie sich aus Angst vor einer Mahnung unter Druck setzen liessen oder wie sie aus Einsamkeit auf Werbeangebote eingingen. Vor allem in ländlichen Gebieten. Emil Hersche von der Pro Senectute Appenzell Innerrhoden erinnert sich an eine alte Bäuerin, die sich selber Postkarten schrieb. Nur damit der Pöstler ab und zu in ihr Heimetli kommen musste und sie so etwas Zuwendung fand. «Nun stellen Sie sich mal vor, wie so eine Person reagiert, wenn sie Werbung bekommt, die an sie persönlich adressiert ist!»top

Leute, denen nie etwas geschenkt wurde

Bea Baltensberger und auch Markus Schaaf, Leiter der Heimstätte Rämismühle im Tösstal, sprechen von einer entweder «raffiniert vertrauensvollen Werbung mit persönlicher Anrede» oder aber einem penetranten, aggressiven Ton à la «Sind Sie eigentlich noch bei Trost, dass Sie Ihren Gewinn nicht abholen?!».

Markus Schaaf weiss von zwei Fällen in seiner Heimstätte, in denen er eingreifen musste. Ein älteres Ehepaar und eine allein stehende Frau gingen immer wieder auf Gewinnversprechen ein, bestellten Unmengen von Artikeln und verhedderten sich immer tiefer im Gespinst von Gewinnspiel, Bestellungen und unbezahlbaren Rechnungen. Ganze Schachteln voll von Werbebriefen haben die Betreuer gesammelt. Auch nach dem Tod der alten Frau hat die Werbeflut nicht aufgehört.
Das Perfide bei diesem Marketing: Es trifft meist einfache Leute, die wenig Geld haben. «Leute, denen im Leben nie etwas geschenkt wurde, die sich immer abrackern mussten und stets zu den Verlierern gehörten. Und jetzt, im Alter wird ihnen plötzlich eine Millionen versprochen! Nun – denken sie – haben auch sie endlich mal Glück!», schildert Markus Schaaf die Goldgräberstimmung. Zwar sei ihnen die Sache durchaus auch suspekt, aber allen Widersprüchen zum Trotz bestünde eben doch ein Funken Hoffnung, man könnte gewinnen. Das sei dann wie eine Sucht.

Auch sind die Teilnahmebedingungen für eine Verlosung selten klar definiert. Dabei ist es gesetzeswidrig, einen Losgewinn vom Kauf eines Produkts abhängig zu machen. Auf diesen Umstand weist die Reader’s Digest Association – besser bekannt als «Das Beste» – in ihren Werbeschriften wiederholt hin, wie Tamara Tschuor, Business-Managerin von Reader’s Digest Schweiz betont. Nur werden diese Hinweise im Schachtelsystem von Erklärungen zu den diversen Teilnahme-Coupons, den einzusendenden Nein- oder Ja-Antwortcouverts und den Gewinnaussichten leicht überlesen. Dem flüchtigen Leser wird überdies nicht klar, dass ein erstes zur Ansicht erhaltenes Buch von Reader’s Digest zwar gratis ist, dann aber die Lieferung weiterer, kostenpflichtiger Exemplare ausdrücklich gestoppt werden muss. Wer nichts unternimmt, bekommt automatisch die Folgebände zugestellt.top

Nie gelernt, Nein zu sagen

So stapeln sich in mach einer Stube ungelesene Reader’s Digest Bücher, wie auch Emil Hersche zu berichten weiss. Stuben voll mit diversen Artikeln wie Decken, Tischtücher, Geschirr, Koffer-Sets, Werkzeug und irgendwelche Geräte. Er erzählt von einer 80jährigen Frau, die sich in den Hochglanz-Heftli immer die schönen Produkte und Wundermittel ansah und ständig neue Bestellungen aufgab. Ihr verstorbener Mann war Hilfsarbeiter gewesen und hatte immer die pekuniären Angelegenheiten geregelt. Jetzt war sie allein und hilflos.
Für Altersforscher François Höpflinger von der Universität Zürich ein typisches Merkmal: «Es sind Menschen, die noch das klassische Ehemodell gelebt haben, in dem der Mann das Geld verwaltet hat. Meist bleibt die Frau später allein zurück und ist dann überfordert.» Höpflinger ist überzeugt, dass es mehr mit der eigenen Lebensgeschichte zu tun hat, ob man sich übers Ohr hauen lässt oder nicht, als mit dem Alter. Wichtig ist, dass man gelernt hat, Nein zu sagen.
Junge Menschen würden genauso auf Tricks reinfallen und seien oft zu wenig selbstbewusst, um ausreichend werberesistent zu sein. Allein gewisse Themen würde bei den Älteren besser greifen, zum Beispiel alles was die Gesundheit betrifft. Seien es die Decke gegen Rheuma, Ginseng gegen Gedächtnisverlust oder auch das Seniorenfutter für den Hund.

August 2003

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