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 Arbeitsmarkt:
Fit mit Chef - die bewegten Mitarbeiter

 

VON VERA BUELLER

 "Ausser Betrieb!". Das behauptet ein Zettel an der Tür des Fahrstuhls. Doch der Lift, der zum Arbeitsplatz führt, ist an diesem Morgen gar nicht kaputt. Vielmehr hat das Unternehmen eine Menge Geld für die angebliche Panne bezahlt: Sie gehört zu einem ausgeklügelten Gesundheitskonzept, das externe Berater entwickelt haben. Dahinter steht die Erkenntnis, dass ein Mitarbeiter, der sich bewegt, sich ausgewogen ernährt und den Stress mit Fitness- und Entspannungsübungen bekämpft, weniger oft krank ist. Das gesunde Treppenlaufen gehört deshalb heute zur unabdingbaren Investition eines modernen Betriebs. Genauso wie die Impfung der Belegschaft gegen Grippe und die Ernährungsberatung im Personalrestaurant.

So kommt es, dass auch die Beamten des stadtzürcherischen Gesundheits- und Umweltdepartements neuerdings in den Genuss liftfreier Tage kommen und in der Mittagspause kollektiv spazieren gehen. Beim Krankenversicherer Swica wird die ideale Zwischenverpflegung während der Arbeit mit einer fruchtigen Überraschung gefördert - der Monat Februar steht im Zeichen der Kiwi. Derweil bietet das Intranet der UBS eine Kampagne zur Fitness am Schreibtisch mit Entspannungsübungen an. Die SUVA hat ein entsprechendes Entkrampfungs-Programm gleich auf die PC-Maus-Matte drucken lassen und der Bildschirmschoner besteht aus Ratschlägen fürs ergonomisch korrekte Einrichten des Arbeitsplatzes.Grossunternehmen wie die Banken Credit Suisse und UBS sorgen sich auch nach Feierabend noch ums Wohlergehen ihres Personals: Zahlreiche Firmensportvereine und Kurse stehen ihm für eine vernünftige Freizeitgestaltung zur Verfügung - das reicht vom Fussball über Kampfsportarten hin zu Yoga, Kochen, Malen und Weindegustationskursen. Selbst das Abonnement für ein Qualitopzertifiziertes Fitness-Zentrum wird von der UBS subventioniert.

Novartis steht dem in keiner Weise nach - der Chemieriese hat gleich ein eigenes Fitness-Studio aufs Werkareal gestellt. Wie bei den meisten grossen Unternehmen gehört auch hier zum Gesundheitskonzept ein ärztlicher Hausdienst, und Aktionen wie Grippeimpfungen, Blutdruck- und Cholesterinbestimmungen können selbst von ehemaligen, pensionierten Mitarbeitern unentgeltlich in Anspruch genommen werden. Und die Credit Suisse fuhr ihren Angestellten schon mit einem sogenannten Check-Bus von Filiale zu Filiale hinterher um Blutdruck, Blutbild, Gewicht und Fitness auf freiwilliger Basis zu analysieren.top

Keine Nächstenliebe

Nun betreibt freilich kein Konzern solch eine Gesundheitsförderung aus reiner Nächstenliebe. Die Investitionen müssen sich ökonomisch lohnen - oder zumindest dem Image dienlich sein. Konkret geht es um so wichtige Betriebsfaktoren wie Senkung des Krankenstandes, Reduktion von Arbeitsunfällen, geringere Mitarbeiterfluktuation und gestiegene Produktivität. Da ist die Rechnung schnell gemacht: Je nach Grösse eines Betriebs belaufen sich die Kosten für einen einzigen Krankheitstag auf 500 bis 1000 Franken. In der Schweiz liegt die durchschnittliche Abwesenheitsquote bei 5 Prozent, was rund 12 Arbeitstagen pro Jahr und Kopf entspricht. Davon sind fast 9 Tage krankheitsbedingt (1997). Das sind Ausfälle von jährlich 4500 bis 9000 Franken für einen einzigen Angestellten.

Verwunderlich ist es also nicht, dass die Gesundheit auch am Weltwirtschaftsgipfel von Davos ein zentrales Thema war. Zumal Erfolgsstatistiken vorliegen, die für sich sprechen: Die EU hat ein Europäisches Netzwerk für betriebliche Gesundheitsförderung initiiert und gezielt die psychosozialen Aspekte am Arbeitsplatz angegangen. Statt hundemüde und innerlich längst im Kündigungszustand die Arbeitszeit zu absolvieren, soll die Sozialkompetenz der Mitarbeiter gefördert werden. Fazit: In den nördlichen Mitgliedsländern sanken im Laufe der letzten drei Jahre in den Konzernen, die dem Netzwerk angehören, die Absenzen von 14 auf 6 Prozent.

40 Prozent weniger Absenzen

Auch die Schweiz ist mit einigen Firmen im europäischen Netzwerk präsent - allen voran mit ABB-Schweiz. Die krankheitsbedingten Fehlzeiten sanken hier in den letzten fünf Jahren um 40 Prozent auf derzeit 2,3 Prozent. Und ABB gilt mittlerweile als Bilderbuch-Betrieb in Sachen Gesundheitsförderung. Ihm steht das Badener Institut für Arbeitsmedizin (Ifa) zur Seite, das Schwerpunktthemen wie Suchtprävention, Hilfe bei Mobbing, Stress, Raucherentwöhnung, gesunde Ernährung und Früherkennung von Herz-/Kreiskaufrisiken setzt. Eine Besonderheit ist der von ABB ins Leben gerufene "Ethik-Diskurs": Mitarbeiter sammeln Themen wie Überforderung am Arbeitsplatz oder Alter, die sie gemeinsam diskutieren. Auch nehmen zukünftige Führungskräfte an einem Schulungsprogramm teil, in dem sie lernen, psychische, physische und soziale Belastungen bei sich und anderen zu erkennen.top

Keine Frage, der Konzern hat die Zeichen der Zeit erkannt. Zwar haben ergonomische, physische und chemische Belastungen am Arbeitsplatz noch immer grosse Bedeutung, aber die psychosozialen Aspekte treten mehr und mehr in den Vordergrund. Und dieser Bereich wird mit der Richtlinie der Eidgenössischen Kommission für Arbeitssicherheit (EKAS) nicht abgedeckt - mit der Richtlinie sind die Arbeitgeber seit dem 1. Januar 2000 verpflichtet, Arbeitsärzte und andere Spezialisten der Arbeitssicherheit beizuziehen, wenn es zum Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer und deren Sicherheit erforderlich ist.

Dabei sind sich die Arbeitspsychologen einig: Vor allem Fusionen, der rapide Wandel der Produktionsmethoden, Angst vor Arbeitsplatzverlust, Karrierebrüche, hohe Mobilitätsanforderungen, verschärfter Leistungsdruck und eine generelle Einbusse bezüglich der Kontrolle über die Arbeits- und Lebenssituation belasten heute die Angestellten. Dies verbunden mit einer Entsolidarisierung der Belegschaft. Ivars Udris vom Institut für Arbeitspsychologie der ETH Zürich spricht von einer "Zunahme von Mobbing als Überlebensstrategie in einer durch Lean Management magersüchtig gewordenen Organisation".

Lean-Seelen wieder aufpäppeln

Kein Wunder, nehmen Depressionen zu. Sie belasten die Schweizer Volkswirtschaft - und die Kassen der Firmen - bereits mit 7 Milliarden Franken pro Jahr. So haben viele Betriebe wie etwa Manor, die SBB oder Hewlett Packard schon Psychologen beigezogen. Andere arbeiten mit Ombudsmännern und -frauen und führen "Kamingespräche" mit Führungskräften und Untergebenen durch.

Nun müssen also die nach Jahren des Lean-Managements entschlackten Seelen wieder aufgepäppelt werden. Dafür gibt es auch schon den neuen Beruf eines Gesundheitsmanagers und immer mehr Anbieter für betriebliche Gesundheitsförderung, Arbeitsmedizin und -hygiene drängen auf den Markt. Vor allem die Krankenversicherer haben mit prompt reagiert. Sie bieten ihren Taggeldkunden umfassende Wellness-Programme und Kurse an.

Auch Betriebsanalysen stehen zur Wahl. Die Swica hat beispielsweise einen Bäckerei-Produktionsbetrieb mit 500 Mitarbeitern unter die Lupe genommen. Handlungsbedarf zeigte sich vor allem bei Erkältungen aufgrund starker Klimaschwankungen (heiss/kalt). Das Unternehmen investierte 200'000 Franken in die Verbesserung der Infrastruktur. Ergebnis: Schon im ersten Jahr reduzierten sich die kurzfristigen Absenzen um 40%. In einem Jahr sparte es 550'000 Franken.

Die Helsana arbeitet eng mit der "Motio Gesundheitsförderung" zusammen, das schon viele Beamte in der Bundesverwaltung und der Stadt Zürich in Bewegung gebracht hat, die Ernährungsproblematik von Lokführern regelt und selbst Förster auf Fitness trimmt. Eines der Vorzeigeprojekte ist nämlich die Forstverwaltung der Burgergemeinde Biel. Samt Sekretariat gehen deren Forstleute einmal pro Woche nach Magglingen um Sport zu treiben - was teilweise als Arbeitszeit gilt. Denn gerade Waldarbeiter haben starke Rücken- und Gelenkprobleme.

Gesundheit - eine moralische Pflicht

Fast sieht es so aus, als sei bei den Chefs ein Prozess kollektiven Gesundheitsbewusstseins in Gang gekommen. Doch strukturell verankert werden die Massnahmen in einem Konzern und bei den Arbeitsbedingen nur selten. In einer Studie über die betriebliche Gesundheitsförderung in der Schweiz hat ETH-Arbeitspsychologe Ivars Udris dies bereits 1995 bemängelt und daran habe sich bis heute kaum etwas geändert: "Es gibt viele Massnahmen, die auf eine Veränderung der Mitarbeitenden zielen, und wenige, die die Arbeitsumgebung und damit die Alltagsanforderungen im Betrieb ins Zentrum rücken." Alles weist somit darauf hin, dass die Manager mit ihren Gesundheitskonzepten bereits wieder absehbare Spätfolgen produzieren: Gesundheit wird zur moralischen Pflicht, Krankheit und Behinderung zur individuellen Schuld.

Februar 2000

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