Bahn
2000:
Eigentlich ist der Zug schon abgefahren
VON BERTOLT BILLERS
Man
braucht kein Politpsychologe zu sein, um zu wissen, wie die Sache ausgeht:
Hier ein Bundestopf mit 5,9 Milliarden Franken, dort sieben Regionen mit
Begehren für mindestens 20 Milliarden - das gibt ein endloses Gezerre.
Und bereits hat der föderalistische Verteilkampf begonnen. Denn bis Ende
dieses Monats müssen die Kantone ihre Vorstellungen für die zweite Etappe
von Bahn 2000, die zwischen 2010 und 2020 realisiert werden soll, beim
Bund einreichen und damit ihre Karten auf den Tisch legen.
Die Basis für die Fortsetzung des
Konzeptes Bahn 2000 legte das Schweizer Volk mit der Abstimmung über die
Finanzierung des öffentlichen Verkehrs vom November 1998 (Finöv). Im Finöv-Fonds
sind 5,9 Milliarden Franken - von total 30,5 Milliarden - für die zweite
Tranche reserviert. Diese Mittel sollen nun aber nicht mehr allein den
SBB, sondern auch anderen Transportunternehmungen zugute kommen. Die Federführung
für die Konzeption liegt beim Bundesamt für Verkehr (BAV), das bis 2004
eine Botschaft an die eidgenössischen Räte ausarbeiten will.
Vorausdeutungen
Es schickte
seiner Planung erst mal eine Trendprognose voraus und leitete daraus die
Marktbedürfnisse fürs Jahr 2020 ab. Gemäss dieser Vorausdeutung ist mit
einem Wachstum beim Öffentlichen Verkehr von 30 und beim individuellen
Strassenverkehr von 20 Prozent zu rechnen. Damit gibt sich die staatliche
Behörde aber nicht zufrieden. Sie hat andere, noch ambitiösere Eckdaten
definiert: Verdoppelung des Öffentlichen Verkehrs auf ein Wachstum von
60 Prozent und eine Reduktion bei der Konkurrenz Strasse auf nur 10 Prozent
Zuwachs. Um dies zu erreichen hat das BAV die Schweiz in sieben autonome
Planungsregionen aufgeteilt: Zürich, Ostschweiz, Nordwestschweiz, Espace
Mittelland, Romandie, Zentralschweiz, Tessin.
Damit
soll sicher gestellt werden, dass die Nachholbedürfnisse auch an der Peripherie
des Landes befriedigt werden. Unbestritten ist nämlich, dass ausserhalb
des goldenen Wirtschaftsdreiecks Bern-Basel-Zürich so ziemlich alle Regionen
bei der ersten Bahn-2000-Etappe zu kurz kamen. Nun wird ein verfeinertes,
nationales Städtesystem angestrebt, das ans europäische Hochgeschwindigkeitsnetz
andockt.
In der
Praxis sieht das in der Zentralschweiz nun so aus: Am 5. Februar 2001
feierte Luzern das zehnjährige Bestehen seines neuen Bahnhofes. Aus diesem
Anlass waren sich plötzlich alle Politiker und öffentliche Verkehrs-Fachleute
einig, dass die Innerschweizer Metropole ihre Funktion als Drehscheibe
zwischen Norden und Süden, Westen und Osten wieder wahrnehmen muss. Wie
dies geschehen soll, blieb bis dato im Verborgenen. Nun, zur Feier Tages,
offenbarte Regierungsrat Max Pfister das Geheimnis der Lokalpresse: Ein
Luzerner Tiefbahnhof soll realisiert werden.
Alte
Pläne aus der Schublade geholt
Diese
Vision ist allerdings nicht so neu. Der ehemalige Nidwaldner Baudirektor
und Nationalrat August Albrecht hatte vor fast drei Jahrzehnten als erster
die Eingebung von einem Durchgangsbahnhof. Die Luzerner waren indes der
Meinung, ihre Stadt bleibe auch mit Sackbahnhof der Nabel der Schweiz.
Als dann 1971 der alte Bahnhof abbrannte und auf den Ruinen ein neuer
gebaut wurde, nahmen die Planer dennoch die weitsichtige Idee aus Nidwalden
auf: Vorinvestitionen, das heisst Stützwände und Fundamente für einen
viergleisigen Durchgangsbahnhof in Tieflage wurden einbezogen und betoniert.
Seither
ruhen sie im Untergrund. Zumal bei der Neat-Differenzbereinigung die abermalig
lancierte Tiefbahnhof-Idee aus den Plänen gestrichen worden war. Und auch
der Luzerner Stadtrat hatte noch im November 1999 auf einen parlamentarischen
Vorstoss hin erklärt, diese Vision sei vom Tisch. Heute tönt es wieder
anders - schliesslich locken fette Geldtransfers aus Bern. Und Luzern
kann gewichtige Gründe für Investitionen geltend machen: Die Allianz der
Zentralschweizer Kantone pocht auf den Bau einer S-Bahn, die ihre Regionen
untereinander verknüpft, und auf bessere Fernverbindungen. Keine Frage,
das ist mit den bestehenden Anlagen nicht zu machen. Bereits heute fahren
im sechstgrössten Personenbahnhof der Schweiz täglich 514 Züge ein und
aus, dereinst sollen es bis zu 1500 sein - unter anderem im Viertelstundentakt
nach Zürich.
Im
Tessin ökonomisch sinnvoller
Gewiss,
an die Zukunft muss man glauben, sonst hat man keine. Im Falle von Luzern
würde sie mindestens 1,6 Milliarden Franken inklusive Zufahrtsstrecken
zum Tiefbahnhof kosten. Dies, obwohl die Investitionen nichts daran ändern
werden, dass die Innerschweiz vom internationalen Fernverkehr links und
rechts liegen gelassen wird - die Verbindungen durch den Lötschberg und
über Zürich liegen günstiger. Nur noch wenige Eurocitys und grenzüberschreitende
Intercity-Züge machen den Umweg über die Provinz. Und wer von hier in
Richtung Süden in die grosse weite Welt reisen will, muss in der Regel
in Arth-Goldau umsteigen. Auch dürfte die Innerschweizer Wirtschaft mit
einem Tiefbahnhof und einem S-Bahn-System nicht plötzlich prosperieren.
Allein ihre Funktion als Zubringer - von Arbeitskräften - zu den wirklich
grossen Wirtschaftzentren würde gestärkt.
Ökonomisch
sinnvoller scheinen da die Pläne des Kantons Tessin. Hier gilt es, die
Weichen zu stellen, damit sich die Region der Lombardei und damit einem
Wirtschaftsraum von 9 Millionen Einwohnern - in dem Goldgräberstimmung
herrscht - anschliessen kann. Bereits aufgegleist haben die Ticinesi ein
S-Bahnnetz, das die Agglomerationen von Locarno, Bellinzona, Chiasso,
Como und Varese bis zum Flughafen Malpensa - und von dort über die Simplonstrecke
ins Wallis - vernetzen soll. Ausserdem braucht es eine Schnellbahnstrecke
von Lugano nach Mailand. Dort verkehren heute die Intercity-Züge auf den
veralteten Anlagen mit 50 Stundenkilometern. "Da ist man mit dem Velo
bald schneller", bringt's Riccardo De Gottardi vom Dipartimento del territorio
auf den Punkt. Die Kosten dürften alles in allem - inklusive direkte Verbindung
Lugano-Locarno durch den Monte Ceneri-Basistunnel und inklusive Infrastrukturausbau
einiger Bahnhöfe - mindestens bei 1,5 Milliarden Franken liegen.
Grenzüberschreitendes
S-Bahn-Netz
Auch
die übrigen Bahn 2000-Planungsregionen versuchen pro domo Zeichen zu setzten:
Alle wollen ein weit reichendes S-Bahn-Netz durchboxen - in der Ostschweiz
mit Flughafenanschluss bis und mit Bodenseeraum, in der Romandie bis nach
Frankreich. Im Endausbau würden dann sämtliche Züge in allen sieben Regionen
im Viertelstundentakt verkehren. Entsprechende Verbesserungen werden ebenfalls
unisono für die wichtigsten Fernverbindungen gewünscht, was wiederum Ausbauten
bei den Knoten bedingt - wie in Bern oder St. Gallen.
So auch
in Zürich: Es geht um einen zweiten Durchgangsbahnhof. Doch hier haben
die Bahnstrategen die Zeichen des knappes Finöv-Fonds rechtzeitig erkannt
und fahren neuerdings auf einem separaten Gleis. Die 1,45 Milliarden Franken
sollen zu 40 Prozent vom Kanton, zu 60 Prozent aus dem ordentlichen SBB-Budget
finanziert werden. Nur so ist es auch möglich, den Ausbau innert nützlicher
Frist - bis 2012 - zu realisieren.
Trotz
des Wegfalls dieses Zürcher Brockens ist der zu verteilende Kuchen mit
5,9 Milliarden Franken viel zu klein. Da werden viele Wünsche auf den
St. Nimmerleinstag verschoben werden müssen. Zumal einiges darauf hinweist,
dass die Torte schon zum grössten Teil gegessen ist: Allein der dritte
Juradurchstich von Liestal nach Olten und Aarau frisst mit 3,5 Milliarden
mehr als die Hälfte. Betriebswirtschaftlich und auch verkehrstechnisch
betrachtet, muss er für die SBB Priorität haben. Denn durch ihn werden
Bern, Luzern, Zürich und die Ostschweiz optimal ans europäische Hochgeschwindigkeitsnetz
angebunden. De-facto hat sich die SBB, wie die NZZ offenbart hat, auch
bereits dafür entschieden - ungeachtet der Planspiele der sieben Regionen.
Auf dem
Papier hat allerdings das Parlament das letzte Wort. Verwunderlich ist
deshalb nicht, dass dort und im BAV schon eifrig lobbyiert wird.
März
2001
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