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 Brückenangebote:
Das Zehnte zwischen Schule und Bank

 

VON GREGOR LUTZ

 Bildung ist ein teures Gut - vor allem deren Erwerb. Und das gilt nicht nur für akademische Berufe, wie uns die Zürcher Privatschule Delta lehrt: Für 24'000 Franken empfiehlt sie sich finanzkräftigen Eltern als Ort, wo das 10. Schuljahr absolviert werden kann, wo "persönliche Schwachstellen" des Nachwuchs "individuell aufgearbeitet werden". Doch nicht nur Privatschulen haben das 10. Schuljahr entdeckt, auch die Bildungspolitiker in den Kantonen machen sich zunehmend Gedanken über die Ausgestaltung des freiwilligen Zehnten nach der obligatorischen Schulzeit.

Klar ist dabei nur das Ziel: Das Zwischenjahr soll ein Sprungbrett ins Berufsleben sein. Doch für wen? "Für alle Jugendlichen", werden die Baumeister des Schweizer Bildungssystems nicht müde, zu betonen. Das wären also all jene, die nach neun Jahren Schule mit schlechtem Notendurchschnitt und entsprechenden Bildungslücken dastehen, die Unreifen, die Fremdsprachigen, die Landjugend, die in irgendeinem Krachen lebt und dort nicht das schulische Angebot vorfindet, das für ein berufliches Weiterkommen notwenig ist. Nicht zu vergessen jene Sprösslinge, die keine Lehrstelle finden, die entweder unrealistische Berufswünsche oder noch überhaupt keine Vorstellungen haben. Ihnen allen stehen als Zwischenlösung je nach Kanton und Gemeinde Anschlussklassen, ein Berufswahl- oder Werkjahr, eine Vorlehre oder ein Integrationskurs offen. Alternativen zur sofortigen Berufsausbildung sind auch Haushalt- und Lebensgestaltungskurse, ein musisches Jahr, Motivationsseminare der Arbeitslosenkassen oder der Welschlandaufenthalt.top

Tönt gut und vielseitig. Nur: An eine Rezession wie in den Neunzigerjahren hatten die Bildungspolitiker nicht gedacht. Plötzlich wurde das Zehnte zum Wartesaal auf bessere Zeiten. Das brachte nicht nur die Lehrpläne durcheinander, sondern belastete die öffentlichen Kassen übermässig. Doch wie immer in Fällen, bei denen zu viel Geld ausgegeben wird, hat die Politik schnell reagiert. Fast in allen Kantonen sind Überlegungen und Arbeiten in Gang gekommen, wie sich das Brückenangebot reformieren lässt. Und es zeichnet sich bereits ein klarer Trend ab: Es soll nur mehr "theoretisch" für alle Jugendlichen da sein. Wer in der Warteschlaufe steht, ist nicht mehr willkommen. Eine Wegleitung des Bundesamtes für Bildung und Technologie gipfelt denn auch in der Empfehlung, dass die Brückenangebote "ausdrücklich nicht gedacht sind für Jugendliche, deren Interesse und Motivation für eine weitere Ausbildung gering ist".

Bedürfnisklausel fürs Zehnte

Wie das in der Praxis aussehen kann, zeigt der Kanton Bern exemplarisch: Ab kommendem Jahr gilt eine neues Bildungsgesetz, das eine Bedürfnisklausel fürs 10. Schuljahr vorsieht. Sie ist gekoppelt an ein Aufnahmeverfahren und eine Zulassungsquote von maximal 20 Prozent - im Extremfall entscheidet das Los über die Zukunft des Jugendlichen. Die 20 Prozent entsprechen nach Angaben der Vorsteherin des Amtes für Berufsbildung, Judith Renner-Bach, dem heutigen Stand. Während der Rezession besuchten 22 Prozent eines Jahrgangs ein 10. Schuljahr - berücksichtig man allerdings auch die privaten Anbieter, waren es im Kanton Bern sogar 30 Prozent. Der schweizerische Durchschnitt liegt laut einer Studie der Uni Freiburg heute bei 15 Prozent.top

Auch die Kantone der beiden Basel haben ein Aufnahmeverfahren eingeführt. Hier hat es allerdings mehr eine erzieherische Funktion: An einer zentralen Anmeldestelle (pro Kanton eine) bewirbt sich der Jugendliche um einen Ausbildungsplatz - so wie im richtigen Berufsleben. Zudem haben die Basler mit einem ausgeklügelten, differenzierten Ausbildungswerk auf den unterschiedlichen Wissensstand reagiert, bei dem die Jugendlichen heute abgeholt werden müssen. Das streben auch alle anderen kantonalen Bildungsreformer an. Was dabei auffällt, ist der Trend zum Praxisbezug und die Ansiedlung des Zehnten auf der Sekundarstufe II, also bei der Berufsbildung. Im Kanton Bern hat man sogar damit begonnen, schon das 9. Schuljahr aufs Berufsleben auszurichten. An 13 Schulen läuft, aufgrund einer Motion der grünen Kantonsrätin Regula Rytz, ein entsprechender Versuch mit Praktika und eine - zur Hälfte - individuellen Ausgestaltung des Stundenplans.

Die Praxisorientierung ist zweifellos eine Folge des Lehrstellenmangels der letzten Jahre - und der Forderungen der Wirtschaft. Damals hatte der Bund mit dem Lehrstellenbeschluss I und II auf die Situation reagiert. Damit die Jugendlichen nicht gleich nach der Schule in die Arbeitslosigkeit entlassen würden, verordnete er den Ausbildnern quasi von oben Innovation: Neue und bessere Zwischenjahrangebote wurden gezielt subventioniert und damit gefördert.

Die Koordinationsstelle Weiterbildung der Uni Bern hat mit einer Untersuchung über die von ihr 250 festgestellten Brückenangebote - die von etwa 10'000 Jugendlichen besucht werden - und die Auswirkungen des ersten Lehrstellenbeschlusses Zwischenbilanz gezogen und gute Noten ausgestellt: 70 Prozent aller Schüler und Schülerinnen, die ein Zehntes absolvieren, finden danach eine Anlehr- und Lehrstelle oder einen schulischen Ausbildungsplatz. top

Lernlust statt Schulfrust!

Ein schöner Erfolg. Angesichts immer härterer Verteilungskämpfe und des allmählichen Schwindens der Lehrstellenbeschluss-Gelder, stellen sich die Kantone nun jedoch die Frage, wie sie Ihre Angebote künftig finanzieren sollen. In den meisten Kantonen ist das 10. Schuljahr nämlich gratis. Einige verlangen ein Schulgeld für Auswärtige. Nur die Kantone Graubünden, Obwalden, Freiburg, Schwyz, Uri und Zürich erheben generell einen Beitrag, der von wenigen hundert Franken (UR, OW, SZ, FR) bis hin zu happigen 14'500 Franken pro Jahr im Kanton Zürich reicht.

Fürs gleiche Geld kann man auch eine Privatschule besuchen. Die Privaten haben es verstanden, schnell und unbürokratisch auf die Krise der Neunziger einzugehen. Bei ihnen gibt es Klassen ohne Ausländer, mit spezieller Interessensausrichtung und individueller Betreuung. Alte Zöpfe wurden radikal abgeschnitten und durch die Lektion "Lernlust statt Schulfrust" ersetzt. In Winterthur entstand beispielsweise das "Institut Intervida", das sich "auf die Persönlichkeitsbildung, auf emotionale Fähigkeiten und Teamtauglichkeit" spezialisiert hat. In Zürich, St. Gallen, Bern und Biel konzentriert sich die Informatikschule für IT Berufe (ISB) mit einem anspruchsvolle Programm auf Computerfreaks. Derweil muss bei der teuren "Delta" die Jugend nicht mehr pausenlos die Schulbank drücken; Wissen wird ihr vor Ort im Anschauungsunterricht eingepaukt - dazu gehören Besichtigungen von Denkmälern und historischen Schauplätzen, praktische Übungen in Werkstätten, Aufenthalte in anderen Sprachregionen. Fast scheint, dass die Öffentlichen solche Entwicklungen verpennt haben. Jedenfalls hat sich die Zahl jener, die das Zehnte an einer Privatschule absolvierten innert fünf Jahren verdoppelt und macht heute etwa 15 % aller 10-Jahr-Besucher aus. top

Bis zu 14'500 Franken Schulgeld

Inzwischen stecken aber auch die öffentlichen Ausbildungsstätten die Felder neu ab. Vor allem ist hinsichtlich der Finanzierung ein Prozess kollektiven Lernens in Gang gekommen. Als erste wollten die St. Galler Bildungspolitiker ihre Beiträge ans 10. Schuljahr aus Spargründen streichen und ein Schulgeld für alle - von Härtefällen abgesehen - einführen. Die Sozialdemokraten ergriffen dagegen das Referendum und das Volk schmetterte die Vorlage ab. Im Kanton Bern war die links-grüne Opposition weniger erfolgreich und hat gar aufs Referendum verzichtet. Das neue Berufsbildungsgesetz sieht nun ein Schulgeld fürs "berufsvorbereitende Schuljahr", wie das Zehnte künftig heisst, von 900 Franken jährlich vor.

Wie die Reform in Zürich enden wird, ist ungewiss. Der Kantonsrat muss erst noch ein Konzept bewilligen, das einen Beitrag von 15 bis 16 Millionen Franken - gegenüber heute 7 Millionen - vorsieht, was der Hälfte der anfallenden Kosten entspricht. Auch die Belastungen für die Eltern werden neu aufgeteilt. Bisher wurden auswärtigen Schülern bis zu 14'500 Franken verrechnet, während die einheimischen nur 500 Franken Materialgeld zahlen mussten. Wenn es gelingt, die Vorlage durchs Parlament zu boxen, zahlen künftig alle zwischen 1200 und 2400 Franken.

Ob der Druck aufs Zehnte mit solchen Massnahmen abnimmt, darf bezweifelt werden. Die Nachfrage wird nämlich nicht nur vom Entwicklungsstand und den Entscheidungen der Jugendlichen bestimmt, sondern vom Lehrstellenangebot. Das nimmt zwar wieder zu, doch nur für die Schüler und Schülerinnen mitguten Noten. Ausserdem stellen viele Ausbildungsbetriebe nur Lehrlinge mit einem 10. Schuljahr an. Warum also nicht die Wirtschaft mit in die Verantwortung nehmen, wenn es um neue Finanzierungsmodelle fürs Zehnte geht?

August 2000

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