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 Staatsanwalt Raffaele Guariniello:
«Arbeiter wussten nichts von der Krebsgefahr»

 

INTERVIEW VERA BUELLER

Die Eternit Schweiz AG muss sich in Italien auf eine Anklage gefasst machen. Der Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello ermittelt wegen fahrlässiger Tötung.Der «Beobachter» sprach mit dem Starstaatsanwalt.

Signor Procuratore, die Gewerkschaften behaupten, dass die Schweiz Sie in ihren Ermittlungen behindert. Stimmt das?

Raffaele Guariniello:(Zögert) Nun, wir haben unsere Anträge für Rechtshilfe bei der Schweiz gestellt. Wenn die von uns geforderten Dokumente nicht kommen, werden wir trotzdem mit dem Verfahren fortfahren und gegebenenfalls prozessieren. (Pause, zuckt mit den Schultern) In anderen Verfahren war die Zusammenarbeit optimal – etwa wenn es um Doping ging.

Sie können in der Schweiz nun also auch problemlos ermitteln?
Wir haben Dokumente von der Suva und der Enternit AG beantragt. Nun schauen wir, was letztendlich dabei heraus schaut.

Bereits 1953 anerkannte die SUVA Asbestose als Berufskrankheit. Warum warten Sie seit Jahren auf Unterlagen aus der Schweiz, damit Asbestopfer oder deren Angehörige endlich entschädigt werden können?

Beim Asbest ist die Latenzzeit bis zum Ausbruch der Krankheit, konkret des Krebses,  das Problem. Sie dauert rund 30 bis 40 Jahre. Also zwischen dem Moment, in dem der Arbeiter dem Asbest ausgesetzt war und dem Ausbruch der Krankheit vergeht viel Zeit. Es war deshalb gar nicht möglich, sofort gegen jene zu klagen, die vor 30 oder 40 Jahren verantwortlich waren.

Im «Corriere delle sera» war kürzlich zu lesen, dass Sie in diesen Tagen die Eternit-Erben Stephan und Thomas Schmidheiny wegen fahrlässiger Tötung anklagen und dies in 2000 Fällen.

Ich habe das nicht gelesen. Im Moment sind wir noch am ermitteln.

Muss, weil es um Millionen geht, alles mehrfach abgesichert sein?

Die Frage der Höhe der Entschädigung tangiert uns von der Staatsanwaltschaft nicht. Das ist Gegenstand von Diskussionen zwischen den Anwälten der Betroffenen, die sich zivilrechtlich mit dem Fall beschäftigen.

Ist es also eine Taktik der Verantwortlichen auf Zeit zu spielen, bis alle Opfer verstorben sind?
Wenn ein schuldhaftes Verhalten seitens der verantwortlichen Hersteller feststeht, können auch die Angehörigen der verstorbenen Opfer Schadensersatzforderungen stellen.

Wäre es nicht besser, wenn der Staat gemeinsam mit der Industrie und den Opfern das Problem mittels eines Entschädigungsfonds lösen würden statt jahrzehntelang zu prozessieren?

Das eine schliesst das andere nicht aus. Und es ist nicht an mir zu entscheiden, was besser ist. Ich glaube an das Gesetz – auch im Sinne der Prävention. Eine Stiftung ist für das Danach zuständig, wir für das Vorher; und natürlich für Gesetzesverstösse in der Vergangenheit.

Auffallend ist bei Ihren Asbest-Ermittlungen Ihre Hartnäckigkeit.

Die Asbestkontaminierung ist ein sehr bedeutendes Problem: Gemäss der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sterben jedes Jahr weltweit 100‘000 Personen an den Folge des Asbest-Kontaktes. In den sechs westeuropäischen Ländern Frankreich, Deutschland, Italien, Niederlande, Schweiz und Grossbritannien rechnet man bis zum Jahr 2025 mit 120‘000 Todesfällen.  Diese Daten haben dazu geführt, dass alle Arbeiter, die jemals Asbest ausgesetzt waren, sehr verunsichert sind, weil sie eines Tages Krebs bekommen könnten.

Wussten die Arbeiter in den 60er Jahren, welcher Gefahr sie sich aussetzen?

Sie wussten von der Asbestosis, aber nicht von der Krebsgefahr. Wir sind im Laufe unserer Ermittlungen auf Dokumente gestossen, die es den Managern untersagten, gegenüber Dritten darüber zu sprechen  – insbesondere nicht mit Journalisten.

In der Schweiz sind die meisten Fälle verjährt. Wie sieht es diesbezüglich in Italien aus?
In der Schweiz ist entscheidend, wann ein Arbeiter kontaminiert worden ist – also zum Beispiel zwischen 1960 und 1980. In Italien ist der Zeitpunkt entscheidend, in dem sich die Krankheit manifestiert oder man daran stirbt. Dies gilt als Moment der strafbaren Handlung. Das ist ein fundamentaler Unterschied.

Wie viel Zeit bleibt Ihnen persönlich noch für Ihre Ermittlungen? Wenn ich richtig informiert sind, sind Sie bereits 66 Jahre jung. Irgendwann gehen Sie wohl in Pension – oder nicht, bevor der Asbest-Fall geklärt ist?

(Lacht) Ich mache viel Gymnastik. Ich hoffe aber, dass ich noch vor diesem Sommer im einen oder anderen Sinn die Ermittlungen abschliessen kann.

Juni 2007

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Widerstand gegen Rechtshilfegesuch

Die Staatsanwaltschaft Turin führt seit Jahren eine strafrechtliche Untersuchung wegen mehrfacher fahrlässiger Tötung. Sie macht geltend, dass das hohe Gefährdungspotenzial des Asbests spätestens seit den Sechzigerjahre bekannt gewesen sei. Dennoch hätten die Eternit-Erben – u.a. die Industriellenfamilie Schmidheiny – ihren damaligen Mitarbeitenden die erheblichen Gesundheitsrisiken von Asbest zu spät auf dessen krebsfördernde Wirkung aufmerksam gemacht. Bei den Opfern geht es um Italiener, die in Eternitwerken  in der Schweiz und in Italien gearbeitet haben.
Die Turiner Staatsanwaltschaft gelangte erstmals im Jahr 2001 mit einem Rechtshilfegesuch an die Schweiz und verlangte die Herausgabe von Patientendossiers der SUVA sowie eine Liste mit allen ehemaligen Angestellten (rund 2000) der Eternit-Werke in Niederurnen und Payerne. 16 Patienten, die im Werk Niederurnen gearbeitet hatten, waren bereits an einer asbestbedingten Krankheit gestorben.
Die Eternit (Schweiz) AG reichte – erfolglos – gegen das Rechtshilfegesuch Beschwerde beim Bundesgericht ein.
2004 beantragte  die Turiner Staatsanwaltschaft weitere Unterlagen von der SUVA. Diesmal widersetzte sich nebst der Eternit (Schweiz) AG auch die SUVA gegen die Herausgabe bis vor Bundesgericht – beide ohne Erfolg.
Doch diese im Jahr 2004 zusätzlich beantragten Unterlagen sind noch immer nicht in Italien. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement muss zuerst darüber befinden, ob die Rechtshilfe mit dem schweizerischen «ordre public» vereinbar ist. Im Raum steht der Vorwurf der Suva, dem italienischen Staat gehe es letztlich darum, die Tätigkeit der Suva zu überprüfen. Dies sei aber einzig und allein Aufgabe der Schweizer Aufsichtsbehörde.
1,6 Millionen für jedes Asbestopfer?
Nebst dem strafrechtlichen Verfahren, das die Turiner Staatsanwaltschaft führt, gibt es auch zivilrechtliche Forderungen: Die Angehörigen der italienischen Asbestopfer fordern neuerdings von den Erben und früheren Besitzern der Firma Eternit in Italien – von den Brüdern Thomas und Stephan Schmidheiny sowie dem Belgier Jean-Louis de Cartier de Marchienne – je eine Million Euro pro Geschädigten.

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Der Starstaatsanwalt

Knallhart und unbeugsam soll dieser Starstaatsanwalt sein, eine «mediengeile» Primadonna obendrein. So der Ruf, der Raffaele Guariniello voraus eilt. Und da sitzt er nun: Ein kleiner, zierlicher, geradezu schwach wirkender Mann in fortgeschrittenem Alter (66), verschanzt hinter Beigen von Akten. Er spricht ganz leise und bedächtig. Übervorsichtig umschifft er knifflige Fragen – bloss nichts Falsches antworten! Und wenn von Erfolgen die Rede ist, sind es stets die seines Teams und nicht die seinigen. Keine Spur von «mediengeil».
Eines ist dieser scheinbar so liebenswerte Mann allerdings: ein hartnäckiger und fleissiger Staatsdiener. Bis ein Uhr nachts vergräbt er sich in die Arbeit. Und das will er so lange tun, bis er mit 75 Jahren zwangspensioniert wird. Gewiss hat er auch Mut: Unermüdlich ermittelt er gegen Italiens Industrie und deren Umweltsünden. Vor allem aber kämpft er für die Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz.  Guariniello stellte gar den verstorbenen Fiat-Patriarchen Gianni Agnelli an den Pranger. Auch Italiens Radrenn-Mythos Marco Pantani war – wegen Dopings – vor ihm nicht sicher. Ebenso so wenig der mächtige Fussballclub AC Turin, der seinen Abstieg in die untere Liga massgebend diesem Staatsanwalt zu verdanken hat.

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Asbest

Das hitzeresistente Material war lange für die Fabrikation von Dächern, von Isolationsverkleidungen oder auch von Alltagsgegenständen wie Blumentöpfen gebraucht worden.  Gefährlich wird Asbest, wenn feinste Partikel davon eingeatmet werden:
ASBESTOSE ist eine Staublungenkrankheit. Sie wird durch die Einatmung grosser Mengen von Asbest-Fasern über längere Zeit verursacht.
KREBS (Mesotheliom) kann als Brustfellkrebs oder manchmal auch Bauchfellkrebs entstehen. Dazu reicht die Einatmung von weitaus weniger Asbest-Staub als bei der Asbestose aus. Es dauert 30 bis 40 Jahre, bis sich ein Mesotheliom bemerkbar macht.

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