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 Justiz:
Ein verpfuschtes Leben

 

VON BERTOLT BILLERS

 Die Wahrheit? Hans Reich* blickt lange auf den Stoss seiner Prozessakten und zuckt mit den Schultern. Längst hat er kapiert, dass sich die Wahrheit nach 13 Jahren nicht mehr finden lässt – auch ist sie mittlerweile ohne jede Bedeutung. Ausser für ihn: Nächtelang, erzählt er, zeichne er immer wieder an einem feinen Gespinst von Verdachtsmomenten gegen Gott und die Welt, entwerfe neue Verschwörungstheorien und lasse zum Xten Mal den 23. Juni 1984 Revue passieren. Damals hatte der Direktor des Zentralschweizer Technikums von Luzern den Studenten Hans Reich am späten Nachmittag angerufen und ihm mitgeteilt, dass er «nach langer Diskussion im Lehrerkollegium wegen zu schlechter Noten» nicht zur Diplomprüfung vom kommenden Tag zugelassen werde. Reich wusste sofort, dass der Grund für die schlechten Noten nicht mangelhafte Leistungen waren, sondern die persönlichen Animositäten zwischen ihm – dem bereits 34jährigen, gar eigenständig denkenden Studenten – und seinem Klassenlehrer. Schon früh hatte der Dozent, wie Mitschüler bestätigen, gedroht, er werde dafür sorgen, dass man den Aufmüpfigen nicht diplomieren werde.

Gewiss, räumt Hans Reich heute ein, es hätte damals einen Ausweg gegeben, den die meisten Studenten wählen, wenn sie zu einem Diplom nicht zugelassen werden: zu Kreuze kriechen und das letzte Semester wiederholen. Doch in dieser «Klasse des Duckmäusertums» mochte er nicht spielen. Dafür war sein Rechtsgefühl zu ausgeprägt.top

Allerdings hatte der angehende Ingenieur und gelernte Maschinenzeichner von der Juristerei wenig Ahnung und eine Rechtsmittelbelehrung war ihm erst im nachhinein zuteil geworden. So verstrichen Monate, ehe er seinen Rekurs einreichte und die Zulassung zur nächsten Diplomprüfung – ohne Wiederholung des sechsten Semesters - forderte. Im April 1985 entschied dann prompt der damalige Regierungsrat Walter Gut in seiner Funktion als Präsident des Ausschusses für Rekursfälle und «im Namen des Technikumsrates», auf die Beschwerde nicht einzutreten. Reichs Pech war, dass er die Frist verpasst hatte.

Urkundenfälschung eines Regierungsrates?

Dieser aber forschte nach und fand heraus, dass der Entscheid von Walter Gut im Alleingang, ohne Beizug des Ausschusses und deshalb widerrechtlich zustande gekommen sei. Folglich gelte der Rechtsspruch gar nicht. Kühn warf der Student dem gestandenen Politiker gar vor, Urkundenfälschung betrieben zu haben – weil er über die Identität des Ausstellers getäuscht habe. Walter Gut behandelte diesen Vorwurf in eigener Sache gleich selbst.

Damit nahm die Katastrophe ihren Lauf. Entsetzt über die Doppelfuktion von Beschuldigtem und Urteilendem mutierte Hans Reich zum Michael Kohlhaas: Den Filz von Politik, Verwaltung und Wirtschaft wollte er mit Eingaben entlarven – mal an den Technikumsrat, mal ans Erziehungsdepartement, an die Staatskanzlei, den Regierungsrat, den Petitionsausschuss des Grossen Rates, ans Biga, an die Bundesanwaltschaft und an die kantonalen Strafverfolgungsbehörden. Der letzte vom Regierungsrat ergangene Entscheid datiert vom 28. Oktober 1997. Und wieder wurde die Beschwerde abgewiesen: Hans Reich gehe es nämlich nicht mehr um die Sache, sondern «um irgendwelche – nur subjektiv wichtige - Prinzipien». Dabei wolle er einfach nicht wahrhaben, dass seine Leistungen für die Zulassung zum Diplom damals nicht ausreichten. Also könne man ihm heute auch nicht, wie gefordert, den Titel eines diplomierten Ingenieurs schenken. Die Aufsichtsbehörde schliesse zwar nicht aus, wie sich Justizvorsteher Heinz Bachmann ausdrückt, dass früher einiges schief lief. Aber der Beschwerdeführer habe nun mal 1985 die Frist verpasst, alles andere sei irrelevant. So ist das, Punktum. top

Hans Reich trägt’s mit Fassung - längst ist die Katastrophe bei ihm heimisch geworden. Denn sein Kampf «gegen das inzüchtige Rechts- und Politsystem der Schweiz», wie er sich ausdrückt, hat ihn ruiniert: Zuerst war er monatelang arbeitslos, dann wurde er lebensmüde – «nicht aber selbstmordgefährdet», darauf legt er wert. Müssig festzustellen, dass seine materielle Lage zum Verzweifeln war. Erst als der Habenichts seine Frau kennenlernte, ging’s wieder aufwärts: Er fand zwischenzeitlich ein Einkommen im Aussendienst und Verkauf. Doch dann wurde ihm - neuerlich auf Stellensuche - bewusst, wie sehr ihm «diese Lücke im Lebenslauf, das fehlende Diplom» schadet.

Intrigen oder Verfolgungswahn?

Auch glaubte er jetzt, dass irgendwelche einflussreiche Personen unaufhörlich gegen ihn intrigieren würden. Man werde halt, gesteht er sich selbst ein, mit der Zeit schon auch etwas paranoid. Früher, vor dem Diplomausschluss, habe er jedoch nie Probleme gehabt: Er sei ein rechtschaffener Schweizer gewesen, der als Panzergrenadier seinem Vaterland loyal gedient habe. Und er hatte ein ordentliches, anständiges Leben geführt, hatte auf dem zweiten Bildungsweg das Handelsdiplom mit Bravour bestanden und jahrelang bei einer Pumpenbaufirma Präzisionsarbeit geleistet.

«Nicht wahr, man sieht mir den Sozialfall nicht an», sagt er nun unvermittelt mit hochgerecktem Haupt – mehr ultimativ feststellend als fragend. Ja, so tadellos gekleidet und stattlich in seiner Erscheinung würde man nie auf die Idee kommen, dass er und seine mittlerweile vierköpfige Familie von den Geldern der Luzerner Bürgergemeinde lebt. Unverkennbar ist jedoch die drückende Sinnlosigkeit über all seinem Tun. Denn er weiss, dass ihm kein Befreiungsschlag, kein alle überzeugender Rechtsspruch mehr gelingen wird. Und darin liegt die Dramatik dieses Falls: Hans Reich kann seine Selbstachtung nur wahren, indem er weiter um Genugtuung für erlittene Kränkungen und um Gerechtigkeit kämpft. Kein Zweifel, das wird er auch tun: «Warum nicht an den Menschenrechtshof in Strassburg gelangen und eine öffentliche Verhandlung verlangen, damit diese Kabinettsjustiz endlich geknackt wird?» Darin schwingt nun auch eine gewisse Lust an Subversion mit. Trotzig hat er sich jedenfalls schon mal als Ingenieur HTL ins Telefonbuch eintragen lassen.

 

*Name von der Redaktion geänder / 20. Januar 1982

 

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