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 Justiz:
Recht bekommen ist oft eine Frage des Portemonnaies

 

VON VERA BUELLER

 «Möglichst geil» sollte die Bildertrilogie ausfallen. Mit unverkennbarem Vergnügen lieferte der Luzerner Arzt dazu drei Polaroidfotos seiner Frau in entsprechenden Posen. Auch die zu wählenden Farben waren vorgegeben: weiss, apricot, hellblau und schwarz. Die Malerei sollte zur Lederpolstergruppe (weiss-apricot) passen. Es verging dann allerdings einige Zeit bis Kunstmaler Markus Giovanoli das frivole Werk namens «Jeanine» vollendet hatte. In der Zwischenzeit hatte sich wohl die Sichtweise (oder der Geschmack?) des Arztes geändert – zumindest was seine Frau betrifft. Jedenfalls wollte er von dem Auftrag plötzlich nichts mehr wissen und retournierte die drei Bilder postwendend. Von Bezahlung keine Rede mehr!

Es folgten böse Briefe, eine Betreibung und schliesslich ein zweimal vertagter Termin vor der Friedensrichterin. Ergebnis: Der Künstler erhielt statt den geforderten 7600 Franken nach Abzug aller Verfahrens- und Beratungskosten noch 3900 Franken. Markus Giovanoli: «Ich konnte es mir rein finanziell nicht leisten, das Verfahren weiter zu ziehen. Ich musste auf diesen Kuhhandel eingehen.»

So enden viele Verfahren. Oder aber es kommt aus Kostengründen gar nicht erst so weit. Für Durchschnittsverdiener können Gerichtskosten von 2000 Franken schon ein Problem sein. Und ein Gerichtsentscheid über mehrere Instanzen kommt die unterlegene Partei schnell auf 50'000 Franken zu stehen – die eigenen Anwaltskosten nicht eingerechnet. Ob Ärger mit dem Nachbarn, ein Führerausweisentzug, Streit um das Testament des Grossvaters oder die Scheidung, da hilft auch die in der Bundesverfassung garantierte so genannte unentgeltliche Rechtspflege nicht weiter. Denn wer auf Kosten des Staates prozessieren will, muss arm wie eine Kirchenmaus sein. Jemand wie Markus Giovanoli, der knapp über dem Existenzminimum lebt, kommt fürs Armenrecht nicht in Frage. top

Keine Kostenübernahme vor dem Prozess

Doch selbst wer Anrecht auf eine unentgeltliche Prozessführung hätte, kann damit oft wenig anfangen: Gerade Leute mit niedrigen Einkommen wissen sich meist nicht zu helfen. Sie brauchen Rat und Unterstützung vom Juristen lange vor einem Prozess – sei es auch nur, um kein Verfahren zu eröffnen oder um den Streit gütlich zu regeln. Doch so genannt vorprozessuale Kosten übernehmen in Ausnahmefällen nur wenige Kantone. So kommt es, dass die meisten Gesuche um unentgeltlichen Rechtsbeistand zusammen mit der ersten Rechtsschrift eines Anwalts eingereicht werden. Gerade in Eheprozessen fällt der Entscheid oft erst nach dem Prozess. Wird ein Antrag dann abgelehnt, muss der Gesuchsteller die bis dato angelaufenen Anwaltskosten selber zahlen – oder aber der Advokat streicht sie sich ans Bein.

So geschehen im Fall des Sozialhilfeempfängers Thomas S. in Lenzburg. Sein Gesuch wurde abgelehnt, weil das Gericht bei der Berechnung des Einkommens die Alimentezahlungen an seine Frau nicht abgezogen hatte. In einem anderen Fall in Horgen hat der Richter einer Mutter von zwei Kindern im Ehetrennungsverfahren eine fiktive Alimente als Einkommen angerechnet: Ihr Mann sollte künftig mehr Unterhalt zahlen. Doch dessen Zahlungsvermögen war wegen seiner selbstständigen Beruftätigkeit gar nicht überprüfbar. Der Frau blieben am Schluss hohe Gerichts- und Anwaltskosten. Dies bei einem Einkommen, das gerade beim Existenzminimum liegt. Solche Beispiele belegen, dass die Bewilligung für eine unentgeltliche Prozessführung nicht zuletzt von der Gesinnung des beschlussfassenden Richters oder der Richterin abhängt – und somit für die Betroffenen ziemlich zufällig ist. «Besonders schwer tun sich "stramm bürgerliche" Richter bei der Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung», wie Rechtsanwalt Thomas Gabathuler von der Vereinigung «Demokratischer Juristen und Juristinnen» bestätigt. «Und bei ländlichen Gerichten scheint die Schonung der Staatskasse das absolut wichtigste Anliegen zu sein – auf Kosten des Rechtsschutzes der Betroffenen.» Dabei handelt es sich bei der unentgeltlichen Rechtshilfe nicht etwa um ein Geschenk des Staates, sondern lediglich um eine Vorschusszahlung. In Zeiten leerer Staatskassen dauert es keine zwei Jahre und die Behörden fordern das Geld schon wieder zurück. top

Verfahren übers Portemonnaie abwimmeln

Ganz anders der niederländische Staat, der sich die unentgeltliche Rechtspflege und die anwaltschaftliche Vertretung der Rechtsuchenden etwas kosten lässt: rund 300 Millionen Franken jedes Jahr. Es wird nicht, wie in der Schweiz, in jedem einzelnen Fall geprüft, ob der Betreffende tatsächlich die finanziellen Mittel nicht hat, um die Rechtshilfe zu berappen. Der niederländische Staat hat vielmehr im Gesetz eine Einkommensgrenze festgelegt, die derart hoch ist, dass derzeit 42 Prozent der niederländischen Bevölkerung grundsätzlich Anspruch auf fast unentgeltliche Rechtshilfe hat (sie zahlen 770 bis 78 Franken Selbstbehalt). Dazu gehört auch ein Netz kostengünstiger Beratungsstellen. Erstaunlicherweise hat dieses System nicht zu mehr Verfahren geführt.

In der Schweiz scheinen die Behörden indes davon auszugehen, übers Portemonnaie Verfahren abwimmeln zu müssen. Nur so ist zu erklären, dass einer, der das Obligatorische nicht schiessen und deshalb an den Bundesrat gelangen will, mit einem «Kostenvorschuss» von 500 Franken zum Aufgeben gedrängt wird. Die Kostenvorschusszahlungen in der Höhe von 100 bis 10'000 Franken für Beschwerden vor dem Bundesrat wurden vor rund zehn Jahren mit dem erklärten Ziel eingeführt, den Bundeshaushalt zu entlasten. top

Auch das neue Bundesgerichtsgesetz will den Zugang zum Bundesgericht stark beschränken: Selbst gröbste Verfassungsverletzungen können nicht mehr vor Bundesgericht gerügt werden, wenn der Streitwert unter 40'000 Franken liegt (bisher 8000 Franken) oder wenn kleinere Strafen angefochten werden. So sieht es jedenfalls der Entwurf des Gesetzes vor. Gemäss der Botschaft des Bundesrates müsste das höchste Gericht künftig auf rund ein Drittel der zivilrechtlichen Beschwerden nicht mehr eintreten. Vor allem arbeits-, miet- und konsumentenrechtliche Streitigkeiten könnten wegen der hohen Streitwertgrenze nicht mehr ans Bundesgericht gebracht werden.

Je nach Kanton sehr verschieden

Die Gerichtsgebühren, die in fast allen Kantonen ganz oder teilweise vorgeschossen werden müssen, bilden bereits vor der ersten Instanz oft eine unüberwindbare Barriere. Ausgenommen von Prozesskosten sind einzig Verfahren vor Arbeitsgericht (bis 30'000 Franken) und vor der Mietschlichtungsstelle sowie in Sozialversicherungsfragen – wobei man auch bei solchen Verfahren selten ohne eigenen Anwalt auskommt. Ansonsten herrscht der Kantönligeist: Das Zivilprozessrecht und die Strafprozessordnung werden von 26 verschiedenen kantonalen Gesetzen massgebend geregelt. Sowohl die Verfahrensdauer wie auch die Kosten sind sehr unterschiedlich. Die Materie soll allerdings dereinst mit einer schweizerischen Strafprozessordnung und einem Bundeszivilprozessrecht vereinheitlicht werden. Ob dies auch die Kosten umfassen wird, ist jedoch umstritten. Einzelne Kantone wollen die Hoheit über ihre Einnahmequelle nicht aus der Hand geben.top

Dass Geld das Schweizer Rechtssystem prägt, musste auch IV-Rentner Stefan M. erfahren. Bei ihm ging es anfänglich um eine Parkbusse von «nur» 120 Franken. Er hatte seinen Wagen in einer Sperrzone parkiert und war überzeugt, dass ihm die IV-Spezialbewilligung das Recht dazu gab. Doch sowohl die Untersuchungsrichterin wie auch das Luzerner Amtsgericht waren anderer Meinung. Das hat dem Rentner nebst der Busse von 120 Franken Verfahrenskosten von 750 Franken beschert. Doch eine Begründung dafür, weshalb seine Argumentation gegen die Busse nicht verfangen hat, bekam er nicht. Eine Begründung des Urteils kostet nämlich zusätzlich 400 Franken! «Das ist doch skandalös. Ohne Begründung kann ich gar nicht entscheiden, ob es Sinn macht, den Fall eine Instanz weiter zu ziehen oder nicht.» Aus Geldnot verzichtet Stefan M. nun auf die Begründung des Gerichts. 870 Franken machen bereits mehr als die Hälfte seiner IV-Rente aus. Trotzig fügt er hinzu: «Dieses Rechtsprinzip muss man nur mal zu Ende denken. Es ist so, wie wenn einer wegen Betrugs zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wird und wenn er dann noch die Begründung dafür haben will, bekommt er zwei weitere Jahre aufgebrummt.»

Juli 2003

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