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 Kinderalimente:
Von Kind zu Kind verschieden

 

VON VERA BUELLER

Johannes will nicht mehr in den Gitarrenunterricht – die Musik ist ihm verleidet. Doch seine Mutter weiss, dass das nicht stimmt: «Ich stottere noch immer Monat für Monat die Kosten des letzten Kurses ab. Johannes will mir nun helfen, in dem er vortäuscht, das Gitarrenspielen mache ihm keinen Spass mehr», sagt die alleinerziehende Ursina Schmid. Selbst in der Schule wollte ihr Sohn verschweigen, warum seine Mutter keinen anderen Ausweg mehr sah, als ihn für Klassenanlässe wie Museumsbesuche, Kinovorstellungen und Skitage abzumelden: Es fehlte schlicht das Geld dafür. Heute werden die Kosten aus dem Schulfonds gedeckt.

Dabei hätte der 14jährige Bub Anrecht auf Alimente. Doch sein Vater hat das Geld für eigene Zwecke ausgegeben und ist heute, nach langer Erwerbslosigkeit, ausgesteuert. Für solche Fälle wurde 1980 die Alimentenbevorschussung zum Schutz des Kindes eingeführt: Die Behörde schiesst das Geld vor und versucht es beim Vater einzutreiben. Selbst dann, wenn die Chancen für das Inkasso gleich Null sind oder der Schuldner im Ausland lebt, zahlt der Staat – jedenfalls in der Theorie.

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Theorie und Praxis

Ganz anders die Praxis, wie Ursina Schmid erfahren musste. In den meisten Gemeinden wird die Kinderalimente nämlich nur dann bevorschusst, wenn Einkommen und Vermögen der Einelternfamilie – in der Regel ist das die Mutter mit dem Kind – bestimmte, niedrige Grenzen nicht übersteigen. Im Wohnort von Ursina Schmid, in Adligenswil (LU), ist die Höhe des steuerbaren Einkommens ausschlaggebend: Beträgt es mehr als 43'000 Franken (33'000 Franken + 10'000 Franken pro Kind), gibt es gar keine Vorschüsse. «Kein Problem», dachte die Alleinerziehende, denn sie erzielt ein Reineinkommen von nur 41'625 Franken. Rechnet man aber die im Jahre 2003 ausbezahlte Alimentenbevorschussung dazu, klettert ihr Einkommen auf total 47'357 Franken. Folge: Die Adligenswiler Behörde strich die Alimentenbevorschussung für 2004 – und das Reineinkommen sank unter die festgelegte Grenze. 2005 gibt’s folglich wieder Geld von der Gemeinde – und so weiter…

Ursina Schmid konnte es nicht glauben: «Konkret heisst dies, dass mich der Staat jeweils ein Jahr lang darben lässt, damit ich im Folgejahr wieder Geld bekomme!» Die alleinerziehende Mutter beschwerte sich erfolglos beim kantonalen Sozialdepartement. Denn selbst die Gesetzesklausel, dass die tatsächlichen Verhältnisse und nicht jene des Vorjahres für die Berechnung berücksichtigt werden können, kam bei ihr nicht zum Tragen: «Die Abweichung müsste halt mehr als 15 Prozent des Reineinkommens betragen», erklärt Liliana Paganini vom Adligenswiler Sozialamt.

Für Rose Nigg vom Schweizerischen Verband für Alimentenfachleute (SVA) ist das ein unhaltbarer Zustand: «In anderen Kantonen können  für die Anspruchsberechtigung die bevorschussten Alimenten vom Reineinkommen abgezogen werden und so trifft diese unbefriedigende Situation gar nicht erst ein.» Aber auch Kantone, die bisher anstandslos bezahlt haben, legen sich neuerdings quer. So hat die Tessinerin Laura Codoni* just zu Weihnachten eine wenig frohe Botschaft erhalten: Ab Januar werden ihr die Alimentenvorschüsse gestrichen, weil sie diese schon länger als 5 Jahre bezieht.

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Sparen auf Kosten der Frauen

Mit diesem neu eingeführten Zeitlimit will der Kanton 2 von 12 Millionen Franken auf dem Buckel der Frauen jährlich einsparen. Das treffe nur die Reichen, den Armen bleibe die Ergänzungsleistung für Tessiner Kinder, verharmlost der Staatsrat die radikale Sparmassnahme. «Das ist ein Witz, weil viele Frauen sowohl auf das eine wie auf das andere angewiesen sind. Meine Klientin, die Signora Codoni, ist völlig verzweifelt, denn es fehlen ihr für ihre zwei Kinder Knall auf Fall 1000 Franken monatlich», schildert die Luganeser Rechtsanwältin Rosemarie Weibel die Realität. Sie will nun wenigstens eine faire Anpassungsfrist erreichen.

Andernorts bekommen Alleinerziehende Probleme, sobald sie einen neuen Lebenspartner haben. So geschehen bei Sabina Bauert, die im Glarnerland lebt. Sie näht im Stundenlohn Matratzen und kommt so – je nach Auftragslage – auf einen Monatslohn zwischen 1200 und 3000 Franken. Der Vater ihres Sohnes ist unfähig, Alimente zu zahlen. Als Sabina Bauert bei ihrer Wohngemeinde eine Bevorschussung beantragte, «war ich so ehrlich und habe gesagt, dass ich einen Freund habe». Daraufhin wurde sein Einkommen zu ihrem dazu geschlagen «und man hat mir vorgerechnet, wie viel die Wohnung kosten darf, dass mir mein Freund Haushaltsgeld und ich ihm umgekehrt ein Kinderbetreuungsgeld zahlen müsse». Dann hätte sie auch noch jeden Monat mit dem Lohnausweis auf der Gemeinde vorbei kommen müssen «damit man mir – im besten Fall – 12 Franken auszahlt.»

Tatsächlich erlaubt es das Gesetz einiger Kantone, das Einkommen des Konkubinatpartners bei der Berechnung der Bevorschussungsgrenze einzubeziehen. Während Jahren hat Felix Diener «gegen diese Willkür eines Gemeindeammanns», wie er sich ausdrückt, gekämpft. «Um Mietkosten zu sparen, zog ich mit meiner damaligen Freundin und deren Sohn in eine gemeinsame Wohnung.» Der leibliche Vater des Kindes hatte sich ins Ausland abgesetzt. Die Gemeinde Kirchberg (SG) machte nun aber geltend, dass sie keine Bevorschussung zahlen müsse, weil 1999 die kantonalen Bestimmungen geändert worden seien: Demnach müsse d as Einkommen des «obhutsberechtigten Elternteils, des Konkubinatspartners und des Stiefelternteils» für die Unterstützungspflicht des Kindes angerechnet werden – also liege das Einkommen von Diener und seiner Freundin über der Bevorschussungsgrenze.

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Zweitgrösster Fehlentscheid des Jahres

«So nicht», sagten sich die beiden und zogen bis vor Bundesgericht, das dann aber gemäss der Juristenzeitschrift Plädoyer «den zweitgrössten Fehlentscheid des Jahres» fällte: Es kam zwar zum Schluss, dass der Konkubinatspartner vom Gesetz her – im Gegensatz zu Stiefeltern – nicht verpflichtet ist, für das Kind des Partners Unterhalt zu zahlen. Für die Bemessung einer Alimentenbevorschussung dürfe sein Einkommen aber trotzdem mit berücksichtig werden.

Ganz anders im Kanton Aargau, wo Margrit Bächtold* mit ihren zwei Kindern lebt. Deren Vater ist in Süditalien abgetaucht. Die Wohngemeinde genehmigte daraufhin zwar die Bevorschussung der ausbleibenden Alimente, aber sie wurde unregelmässig ausbezahlt. « Manchmal musste ich sogar auf die Gemeine gehen um das mir zustehende Geld abzuholen. Dabei bekam ich immer irgendwelche dummen Bemerkungen zu hören wie <dieses Geld sehen wir bestimmt nie mehr>», erzählt Margrit Bächtold. 2004 kam dann die Mitteilung, dass es per sofort keine Alimente mehr gebe, weil der Stiefvater zu viel verdiene. Aber: « Das komische daran ist, wir seit acht Jahren immer gleich viel verdienen.» M argrit Bächtold schaltete nun den «Beobachter» ein. Daraufhin gab es plötzlich wieder Geld. Warum? Im Kanton Aargau gibt es keine gesetzliche Grundlage, um das Einkommen des Stiefvaters mit einzubeziehen. Nun soll das Gesetz geändert werden. Bis es so weit ist, hat der kantonale Sozialdienst in einem Kreisschreiben angeordnet, wie solche Fälle gehandhabt werden müssen: Je nach Umfang der Leistungen des Stiefvaters an den Unterhalt des Kindes könne die Gemeinde selber entscheiden, ob sie die Alimente bevorschusst oder nicht. Mit anderen Worten: Wenn der Stiefvater nicht zahlt, hilft die Gemeinde, wenn der Stiefvater freiwillig das Kind unterstützt, hilft die Gemeinde nicht.

Wie diese Richtlinie in der Behörden-Praxis gehandhabt werden dürfte, ahnt Anna Hausherr, die Zentralsekretärin des Schweizerischen Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter: «Die Tendenz, Gesuche abzulehnen, nimmt allgemein in der Schweiz zu. Was den Gesuchstellern am Schluss oft nur noch bleibt, ist das unterste Auffangnetz, die Sozialhilfe.» Bereits steht hinter jedem dritten Sozialhilfedossier ein Kind oder ein Jugendlicher unter 18 Jahren. Und 19 Prozent der Alleinerziehenden sind «Working Poor» – Menschen, die trotz Vollzeitarbeit, nicht genug für ihren Lebensunterhalt verdienen.

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Wer arbeitet ist blöd?

Oft lohnt es sich für sie gar nicht zu arbeiten, wie im Falle der Sabina Bauert: «Wenn ich mein Arbeitspensum reduziere oder gar nicht mehr arbeite, muss die Gemeinde zahlen. Ich bin selber blöd, dass ich noch arbeite.» Tatsächlich: Die Studie «Existenzsicherungen im Föderalismus» der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) belegt, dass Einelternfamilien in zehn Kantonshauptorten der Schweiz weniger Einkommen zur Verfügung haben, wenn sie mehr verdienen. Beispielsweise fällt in Aarau die Bevorschussung der Kinderalimente von 700 Franken pro Monat dahin, wenn sich das Nettoeinkommen von 3100 Franken um 500 Franken erhöht.

Um solchen Ungereimtheiten wirkungsvoll zu begegnen und unter den Kantonen für gleich lange Spiesse zu sorgen «braucht es eine Lösung, die auf Bundesebene geregelt und dem Sozialversicherungssystem angegliedert wird», ist Anna Hausherr überzeugt. Beim Bund werden entsprechende Einheitslösungen auch bereits diskutiert (siehe Kasten). Denn allen ist klar: Um dem Armutsrisiko zu entgehen, verzichten immer mehr Frauen auf Kinder. 1950 brachte eine Frau durchschnittlich 2,4 Kinder auf die Welt, im Jahr 2000 waren es nur noch 1,4 Kinder. Überalterung und Probleme für die AHV sind die Folgen. Es wäre wohl gescheiter, das Kinderhaben nicht noch weiter zu verleiden.

*Name von der Redaktion geändert

Januar 2005

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Grosse Unterschiede

Die Alimentenbevorschussung wird je nach Gemeinde unterschiedlich geregelt:

  • In nur 3 Kantonshauptorten werden Vorschüsse nicht bedarfsabhängig gewährt: In den Hauptorten von TI (max. 5 Jahre),BE, GE.
  • In 7 Kantonshauptorten orientiert sich die Berechnung an den Ansätzen der Ergänzungsleistungen: AI, AR, NW, OW, SZ, TG, UR.
  • In 6 Kantonshauptorten orientiert sich die Berechnung an der Höhe des steuerbaren Einkommens: GL, LU, SO, VS, ZG, ZH.
  • An der Höhe des Lohneinkommens orientieren sich die 10 Kantonshauptorte von: AG, BL, BS, FR, GR, JU, NE, SG, SH, VD.

 Auch das Maximum des bevorschussten Betrags variiert: In den meisten Kantonshauptorten (15) entspricht er der maximalen einfachen Waisenrente gemäss AHV-Gesetz; in anderen ist er weit niedriger: Fr. 400.- in Freiburg und Neuenburg, Fr. 535.- in Sitten; unter 700.- Fr. auch in den Hauptorten von GR, GE, SO, ZH. Zum Vergleich: Ein Einzelkind «kostet» nach Schätzungen des Kantons Zürich je nach Alter zwischen 1820 bis 1980 Franken im Monat.

(Quelle: Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS, 2003)

 

Ergänzungsleistungen für Kinder?

 Die Sozialkommission des Nationalrats hat einen Gesetzesentwurf zu den Ergänzungsleistungen ausgearbeitet, der auf parlamentarische Initiativen von Jacqueline Fehr (SP, Zürich) und Lucrezia Meier-Schatz (CVP, St. Gallen) zurückgeht: Die Ergänzungsleistungen sollen nach dem Vorbild des Kantons Tessin ausgestaltet werden. Der Südkanton kennt seit 1996 zwei Formen von solchen Ergänzungsleistungen: einerseits die Kleinkinderzulagen (für Kinder bis 3 Jahre) und anderseits die Ergänzungszulage (für Kinder unter 15 Jahren) – wie sie für bedürftige AHV-/IV-Rentner üblich ist. Gemäss einer Studie könnte man die Familienarmut in der Schweiz damit auf 3,3 Prozent vermindern. Und gar auf 2,6 Prozent liesse sie sich drücken, wenn das Tessiner Modell mit höheren Familienzulagen kombiniert würde.

 Die Kommission schlägt nun auch einheitliche Kinderzulagen von 200 Franken für Kinder bis 16 Jahre vor und von 250 Franken für 17- bis 25-Jährige in Ausbildung.

 

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