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Kirche:
Die Kirche im Warenhaus
VON VERA BUELLER
Schon
seit Jahren konnte Monika Häusermann* mit der katholischen
Kirche nichts mehr anfangen. Nicht, dass sie nicht gläubig wäre.
Nur mit der Institution Kirche hat die junge Ostschweizerin längst
gebrochen. Als sich ihr Bruder das Leben nahm und der Pfarrer diese Selbsttötung
in der Abdankungspredigt als Sünde beklagte, statt Verständnis
zu zeigen, hatte Monika Häusermann genug: Sie trat aus der Kirche
aus.
Doch so einfach, wie sie dachte, ging das nicht. Die lokale Kirchgemeinde
verlangte von ihr, einen Fragebogen auszufüllen: Zivilstand, Geburts-
und Taufort, Konfession eines allfälligen Ehepartners, Grund des
Austritts usw. Monika Häusermann wunderte sich: «Meine Schwester
konnte in St. Gallen problemlos ohne Fragen austreten. Warum ist das
im Thurgau anders?» Sie weigerte sich, die ihres Erachtens zu intimen
Fragen zu beantworten. Es folgte ein monatelanges schriftliches Hin und
Her. Schliesslich liess die Kirche die Abtrünnige ziehen.
Es blieb den Dienern Gottes auch nichts anderes übrig. Denn so
sicher wie das Amen in Kirche ist, dass der Austritt aus einer Glaubensgemeinschaft
gewährt werden muss (vgl. Kasten). Das weiss freilich auch jeder
Seelsorger. Doch die Kirchen sind dazu übergegangen, systematisch
die Austrittsgründe mittels Fragebogen und persönlichen Gesprächen
zu erfassen. Die Absicht dahinter: Die Menschen nicht «am Austritt
hindern», sondern «Lehren ziehen und den Wiedereintritt attraktiv
machen».
Verhältnisse «in Ordnung» bringen
Dabei orientieren sie sich an Erfahrungen aus Deutschland: Dort hat
die evangelische Kirche in grossen Geschäften, Buchhandlungen, Warenhäusern
und Fussgängerzonen so genannte Wiedereintrittsstellen errichtet.
35 gibt es bereits, 11 befinden sich im Aufbau und viele weitere sind
in Planung. «Die Erfahrungen, die wir damit gemacht haben, sind
durchwegs positiv», sagt Rolf Strom von der Evangelischen Kirche
in Deutschland. «Bis zu 40 Prozent mehr Wiedereintritte gab es
in einzelnen Propsteien.» Die Praxis hat nun gezeigt, sagt Rolf
Strom, dass sehr viele Menschen im Laufe ihres Lebens «ihre Verhältnisse
wieder in Ordnung bringen wollen».
Viele Eintrittswillige wüssten aber nicht, wie man wieder eintreten
kann. «Manch einem ist es auch peinlich, beim zuständigen
Pfarrer in der Nachbarschaft seinen Eintritt zu erklären – was
eigentlich die Regel ist. Da ist die Hemmschwelle bei unseren Wiedereintrittsstellen
niedriger.» Um darauf aufmerksam zu machen, lassen die Kirchen
in deutschen U- und S-Bahnen mit Hinweisen auf Einrichtungen wie «Kirche
im Blick» in Hannover über Werbe-Bildschirme flimmern – zwischen
Coca-Cola, «alles Müller, oder was…» und Ratiopharm.
Auch gezielte Öffentlichkeitsarbeit gehört dazu. Zum Beispiel:
Die 1000ste Person, die eintritt, bekommt einen dicken Blumenstrauss überreicht.
Dazu wird die Presse eingeladen – und ein Artikel in der Lokalpresse
ist garantiert.
Auch in der Schweiz denkt man über solche Einrichtungen nach, wie
Markus Sahli vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (sek) verrät: «Wiedereintrittstellen
könnten sich überall befinden, beispielsweise im Loeb in Bern
oder in sonst einem Warenhaus.» Denn der ungebrochene Mitgliederschwund
macht den Schweizer Landeskirchen zu schaffen. Zu Zehntausenden laufen
die Schäfchen ihren Hirten davon; die reformierte Kirche zählt
heute noch knapp 2 Millionen Mitglieder, die katholische etwas mehr.
Damit verbunden ist seitens der Kirche ein massiver Ausfall an Steuereinnahmen.
Kirchen-Steuer-Wirrwarr
Seitens der Abtrünnigen bedeutet der Austritt hingegen
eine Entlastung. Aber mit der Kirchensteuer in der Schweiz ist es so
wie mit vielem in unserem Land: Weil sie kantonal und kommunal unterschiedlichst
gehandhabt wird, herrscht ein Steuerwirrwarr sondergleichen. So zahlen
natürliche
Personen im Kanton Tessin zwar 2,5 Prozent der einfachen Staatssteuer.
Aber nur, wenn sie Katholiken sind und dem Steueramt nicht vorgängig
gemeldet haben, dass sie nicht zahlen wollen. Auch in den Kantonen Genf
und Neuenburg ist die Kirchensteuer freiwillig. Im Wallis zahlt man nicht
in allen Gemeinden, in der Waadt finanziert der Kanton die Kirchen über
die allgemeinen Steuern – deshalb leisten dort auch Muslims Beiträge
an die Landeskirchen.
Vieles spricht dafür, dass in den Kantonen mit Kirchensteuerpflicht
vor allem finanzielle Überlegungen zum Ausstieg aus der Glaubensgemeinschaft
führen. So gibt es in jenen Kantonen, wo die Beiträge freiwillig
geleistet werden, kaum Austritte. Dennoch glaubt Markus Sahli nicht,
dass es primär darum gehe, sich vor der Kirchensteuer zu drücken.
Für eine Familie mit einem steuerbaren Einkommen von 40’000
bis 60'000 Franken stünden Steuereinsparungen von lediglich 300
bis 400 Franken pro Jahr zur Diskussion. Bei hohen Einkommen falle der
zu leistende Obolus schon eher ins Gewicht.
Das eigentliche Motiv für die vielen Austritte sieht Sahli in
der «De-Institutionalisierung und Individualisierung unserer Gesellschaft».
Der anhaltende Erfolg von Freikirchen und esoterischen Strömungen
zeige zwar, dass viele Leute nach Antworten und Gemeinschaften suchten. «Aber
sie wollen sich auf dem Mark jederzeit holen holen können, was sie
gerade brauchen.» Die Landeskirchen müssten sich diesem Markt
anpassen, sagt auch der Kirchen- und Staatskirchenrechtler Professor
Adrian Loretan . Will heissen: auf die unterschiedlichsten Segmente und
aufs Individuum ausrichten. Bereits ist man dazu übergegangen, Leitbilder
zu erarbeiten, «damit der Konsument weiss, was er erwarten kann».
Das Angebot reicht von spirituellen, interaktiven Gottesdiensten, über
trendige Internetauftritte, Meditations- und andere Kurse für alle
Altersgruppen, hin zu offenen Kirchen mit Bistrobetrieb und Lädeli.
Und bald wird es wohl auch Wiedereintrittsstellen in der Migros geben.
*Name von der Redaktion geändert
April
2004
Der korrekte Austritt
Der Austritt aus einer Glaubensgemeinschaft ist gestützt
auf den Verfassungsgrundsatz der Religionsfreiheit jederzeit
möglich. Die Austrittserklärung ist schriftlich an
den Kirchenvorstand der Kirchgemeinde (ref: Kirchenpflegepräsident/in)
zu richten. Sie muss nicht begründet werden. Eine notarielle
Beglaubigung ist nicht erforderlich. Notwendig ist
die Angabe der Personalien und des Taufortes.
Da der Kirchenaustritt primär eine staatskirchenrechtliche
Angelegenheit ist, wird er in den einzelnen Landeskirchen und
Kirchgemeinden, unterschiedlich gehandhabt. In der Regel nimmt
der zuständige Pfarrer mit der austrittswilligen Person
Kontakt auf und macht sie auf die Folgen aufmerksam. Das Gespräch
kann verweigert werden, Fragebogen muss man nicht zwingend ausfüllen.
Ein Wiedereintritt ist jederzeit möglich.
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