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 Psychiatrie:
Die Affäre Peter Kirsch

 

VON HEINZ FASSBENDER
UND LARS TERLINDEN

 Die "grüne Minna" kam im Morgengrauen. Darauf hatte der 34jährige Peter Kirsch, in der Szene auch Cactus genannt, seit mehr als zwölf Monaten gewartet. Die fenstervergitterte Fahrt ging von der forensischen Psychiatrie in Uchtspringe, einem kleinen Nest in Sachsen-Anhalt, zurück nach Berlin. Die zwei Beamten hatten ihn dort im Landeskrankenhaus Pankow/Buch abzuliefern. Nach mehr als zwölf Monaten quälender Fragen, ob er denn nun verrückt oder gar gemeingefährlich sei oder auch nicht, endlich mal eine andere Sicht, aber halt immer noch aus vergitterten Fenstern. Die Landschaft, die an ihm vorbeirauschte grau, trist und kalt. Jeder Ampelstop wird zur Qual, weil alle reingucken, Gaffer eben. Ein Ortswechsel, der eigentlich doch keiner ist. Psychiatrie ist eben Psychiatrie, weggesperrt ist weggesperrt, ob in Sachsen-Anhalt oder Berlin.

Narben und Falten

Die Verschubung in den Ostteil von Berlin ist das einzige Ergebnis eines Antrages von Peter Kirsch auf Freilassung aus dem Psycho-Landeskrankenhaus. Zu mehr konnten sich die Justizbehörden in Magdeburg nicht durchringen. Etwas mehr als ein Jahr zuvor war Peter Kirsch noch ein freier Mann. Die Narben und Falten in seinem Gesicht erzählen nicht gerade von einer rosigen Vergangenheit. Peter Kirsch mußte immer kämpfen. Ob in der bayerischen Heimerziehung oder, wie häufig bei Heimkindern, später auch beim Sozialamt. Ein geradliniges Leben war das eben gerade nicht, erzählt er uns. In der Kölner Hausbesetzerszene fand er erstmals in seinem Leben Menschen, die ihm zuhörten und bei denen er sich aufgehoben fühlte. Das Haus wurde geräumt, die Gruppe driftete auseinander. Nach dem Mauerfall zog es ihn dann in den Ostteil von Berlin, wo er gemeinsam mit dreißig anderen in einem besetzten Haus lebte. Angemeldet, wie er betont. Anmelden mußte er sich auch, denn er bezog, wie viele aus seiner Gruppe, ja auch Arbeitslosenhilfe. Erst vor drei Jahren hatte er endlich mal eine eigene Wohnung am Prenzlauer Berg, blieb aber weiter der Hausbesetzerszene verbunden. Immer wieder engagierte er sich als ehemaliges Heimkind für die sozialen Belange anderer. Sein sensibilisiertes Rechtsempfinden zwinge ihn ganz einfach dazu.top

Hund ohne Fahrkarte

Daß politisches Engagement, in unserer Demokratie ja auch gewünscht, auch heute noch für einen "Einzelkämpfer" konfliktreich enden kann, zeigen unzählige Übergriffe vom ganz normalen Mann auf der Straße bis hin zu Polizeibeamten, die ihn zusammenschlugen. Das sind die kopfschüttelnden Gaffer an den Ampeln, denkt er sich. "Viele Sachen habe ich sicherlich falsch gemacht" konstatiert Cactus im nachhinein, "aber die viele Prügel", teilweise mit langen Krankenhausaufenthalten verbunden, "habe ich eigentlich nicht verdient". Der letzte Übergriff brachte dann das Faß zum überlaufen. Nachdem er sich auf eigene Verantwortung aus dem Krankenhaus entlassen hatte, humpelte er mit angebrochenem Fuß zum Bahnhof, um zurück zu seinen Freunden nach Köln zu fahren. Von Berlin hatte er die Nase gestrichen voll. Der einzige Freund, der ihm beistand, war sein Hund Sojus August. Mit ihm ging er immer durch dick und dünn. Cactus vergaß allerdings auch für seinen Hund Sojus August eine Fahrkarte zu kaufen. Konnte er auch nicht, denn sein Geld reichte nur für seinen Fahrausweis. Die muß man nach den Beförderungsbedingungen der Deutschen Bahn AG auch für Vierbeiner lösen. Hatte er aber nicht, erzürnte sich der Fahrkartenknipser, obwohl der Hund nur brav auf dem Boden des Zugabteils Platz genommen hatte.

U-Haft für zwanzig Mark

Raus in Magdeburg, Fahrkarte für den Hund erbetteln. In Berlin und anderswo eigentlich alltäglich. Auf dem Bahnhofsvorplatz fing alles an. Einen halben Tag hatte er dort schon gesessen, ohne daß sich ein Mensch für seinen treuaugig schauenden Hund erbarmte. Eine Frau Doktor fühlte sich jetzt erpreßt oder, wie es später in einem Polizeiprotokoll heißt, "genötigt", zwanzig Mark "abzudrücken", für den Hund ohne gültigen Fahrausweis. Jetzt lief der noch nicht ganz aufgelöste Apparat an um diesen angereisten Erpresser zu suchen. "Ein Mann mit Hund erpreßt eine Frau Doktor. Wahrscheinlich hat er auch den Hund auf sie gehetzt." Räuberische Erpressung, wenn das nicht geht, doch zumindest aggressives Betteln. Oder könnte der Hund etwa eine Waffe sein? Zig Polizeibeamte schwärmten aus, um diesen Westerpresser zu suchen. Das Ergebnis der schwierigen Fahndung nach einem Täter mit Hund: Untersuchungshaft trotz festem Wohnsitz. Unüblich bei einer solchen Heimkindkarriere: Peter Kirsch alias Cactus war vorher nie strafgerichtlich in Erscheinung getreten. In Magdeburg scheinen solche entlastenden Tatsachen allerdings keine Rolle zu spielen.

Ein Gutachten in zehn Minutentop

Nach sechs Wochen Untersuchungshaft dreht Cactus durch. Er kommt mehrmals in die Arrestzelle. Er kann niemanden verständigen, weiß nicht, was mit seinem Hund ist. Sein anerzogenes Rechtsempfinden läßt ihm keine anderen Möglichkeiten als zu schreien und dadurch um Hilfe zu rufen. Keiner hört ihn. Immerhin hat er einen angeknacksten Fuß. Zwar gab es eine übliche Knastarztuntersuchung, aber dem Herrn Doktor fiel der angebrochene Fuß nicht auf. Die Gefängnisleitung sieht in der Rebellion ein eher krankhaftes, abnormales Verhalten. Das Gericht ordnet eine psychiatrische Untersuchung an. Assistenzarzt Dr. med. Brinkers vom Klinikum für Psychiatrie der Medizinischen Fakultät in Magdeburg versucht dreimal Zugang zu "seinem Patienten" zu finden. Er verweigert das Gespräch. Erst nachdem Oberarzt Dr. med. Danos dem schwierigen Patienten Cactus verspricht, daß es seinem Hund gut geht, entwickelt sich ein zehnminütiges Gespräch. Allerdings mit fatalen Folgen. Die "inhaltlichen Denkstörungen" des Patienten Cactus seien "überwiegend paranoide Vorstellungen". "Während des Gespräches verhielt sich Herr Kirsch [...] sehr lebhaft und sprunghaft", sein deutlicher Redefluß "wirkte teilweise gestelzt und fremdartig.". "Es bestand Vorbeireden". "Sein Gangbild war eckig, gestelzt". Diagnose: "Paranoid-halluzinatorische Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis". Die Literatur zählt zu einem schizophrenen Verhalten auch motorische Störungen in Form abnormer Bewegungen. Ein eckiges und gestelztes Gangbild kann man zwar unter Umständen in Verbindung mit anderen Verhaltensauffälligkeiten als Symptom einer Schizophrenie werten, den angeknacksten Fuß, der das durch Dr. Danos beobachtete Gangbild bestimmte, hat der Oberarzt allerdings nicht bemerkt. Es war ja auch gar nicht soviel Zeit, bei einem Gespräch von zehn Minuten. Das psychiatrische Gutachten zieht durch alle Instanzen. Die Richter am Landgericht Magdeburg verordnen bis zur Gesundung die Unterbringung in der Forensischen Psychiatrie. Auch die Herren Juristen am Bundesgerichtshof pflichten dem Urteilsspruch des Landgerichtes Magdeburg vom grünen Tisch bei. Kein Erbarmen für einen festgenommenen Mann mit Hund ohne Fahrkarte. Der beigeordnete Pflichtverteidiger, Rechtsanwalt Krumm aus Magdeburg, reagierte auf die meisten Eingaben von Cactus nicht. Auch die Richter am Landgericht Magdeburg nahmen beispielsweise nicht ins Protokoll, daß der Angeklagte während der Verhandlung mit schweren Medikamenten ruhig gestellt war. Bei verschiedenen anderen "Vorführungen" stellten die Herren Richter im Justizpalast zwar seinen paranoiden Wahnzustand fest, wollen aber nicht bemerkt haben, daß Cactus, an Händen und Füßen gefesselt, teilweise direkt aus der Arrestzelle kam. Eine ganz besondere Zelle im Knast. Wie soll man sich da verteidigen, mit einem Pflichtanwalt, der derartiges auch nicht registriert. Wahrheitsfindung und Rechtspflege im Magdeburger Palast der Robenträger ausgeschlossen?top

Für Taten nicht verantwortlich

Die Staatsanwaltschaft reagiert burschikos auf Anfragen, warum sie das Gutachten nicht durch einen weiteren Gutachter hat prüfen lassen, soll sie doch auch Entlastendes für den Angeklagten recherchieren. Cactus sei doch freigesprochen, für seine kriminellen Taten also nicht verantwortlich, erhält man als Antwort aus Magdeburger Justizkreisen. Auch der Präsident des Landgerichtes Magdeburg beschwört die richterliche Unabhängigkeit. Und immerhin, der ganze Fall sei ja auch vom Bundesgerichtshof bestätigt worden. Peter Kirsch will aber für seine Taten strafrechtlich büßen, und nicht Zeit seines Lebens von Psychiatern abhängig sein, die ihn in fünf, zehn oder auch zwanzig Jahren als geheilt entlassen könnten, obwohl er doch eigentlich gar nicht krank ist.

Psychose wie Erkältungskrankheit

Die Mangelhaftigkeit des Gutachtens von Herrn Dr. Danos wird auch durch die Rechtsexpertin Helga Wullweber beklagt. "Es fehlen die Anknüpfungstatsachen für die von ihm behauptete psychische Erkrankung." Die "eigenen Erhebungen" seien voller Widersprüche. Rechtsanwältin Helga Wullweber, Mitbegründerin der Zeitschrift "Recht & Psychiatrie", die bei entsprechendem anwaltlichem Engagement durchaus Möglichkeiten sieht, das Gutachten der Universitätsdoktoren aus Magdeburg zu kippen, vertritt Peter Kirsch jetzt gegenüber dem Justizapparat. Dr. Danos selbst erklärte in einem Gespräch, daß die von ihm diagnostizierte Psychose eher wie eine "Erkältungskrankheit" zu sehen sei, die schnell abheilen könnte. Der Mensch ist ja auch manchmal stundenweise einfach nicht gut drauf, und deshalb sei seine zehnminütige Anamnese eher eine Bestandsaufnahme des Tageszustandes von Peter Kirsch. Dies interessiert die Juristen in Magdeburg nicht mehr, haben sie doch das Problem namens Peter Kirsch nach Berlin verschubt.top

Die Mühlen der Justiz

Die Bearbeitung zieht sich hin, denn die Akten, die bei der Justiz immer noch mit dem Karren von Tür zu Tür geschoben werden, brauchen sicherlich noch sechs Wochen, bevor sie von Magdeburg die Berliner Amtsstuben erreichen. Ein Mann mit Hund ohne Fahrkarte, ganz schnell in die Psychiatrie abgeschoben, und das höchstrichterlich bestätigt. Wie lange wird es dauern, bis Peter Kirsch wieder freikommt zu seinem Hund ohne Fahrkarte. Denn Peter Kirsch, alias Cactus, der innerhalb von zehn Minuten für verrückt erklärt wurde, ist nicht verrückt, bestätigen seine Freunde und seine Berliner Rechtsanwältin Wullweber. Das können Dr. Danos und die Herren Juristen jetzt vielleicht auch am Gangbild erkennen, denn der angeknackste Fuß ist unterdessen ausgeheilt. Die Frage bleibt nur, wie viel andere Menschen ihr Dasein im Psychoknast fristen, obwohl sie dort nie hingehört haben und zu einer Bewährungsstrafe hätten verurteilt werden können, wenn sie in der U-Haft mit vergitterten Fenstern nicht um Hilfe geschrien hätten.

Fortsetzung:

 

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