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1 Schritt zurück Inhalt Kultur

Geld und Geist: Kulturprovinz Kulturprovinz:
Jede menge Kulturräume, aber keine Inhalte - Frühlingserwachen mit Kater

 

VON VERA BUELLER

 Diese Turnhalle soll eine Wolfsschlucht sein? Die ältere Dame im ersten Rang ist entsetzt. Ihr Begleiter korrigiert sie: «Zivilschutzraum, keine Turnhalle». Und während der Freischütz auf der Bühne über Militärschlafsäcke stolpert und die Inszenierung mit verkrusteten Gesellschaftsstrukturen aufräumt, ruft jemand im Publikum: «Das isch billig wie ne Mohre gmacht!»

So ganz Unrecht hat der Theaterbesucher aus dem Entlebuch – sein Dialekt verrät ihn – auch wieder nicht: Während man in den letzten Jahren in Luzern weder Kosten noch Mühe gescheut und einen Kulturraum nach dem anderen hingestellt oder aufwändig restauriert hat, fehlt heute das Geld, um die Räume auch mit Inhalten zu füllen. Zwar war es nicht Geldnot, die das Bühnenbild der Luzerner Freischützinszenierung verbrochen hat, aber dass beispielsweise das Video- und Filmfestival Viper der Leuchtenstadt den Rücken kehrt und zu den Basler Honigtöpfchen flüchtet, hat sehr wohl mit Geld und einem verqueren Kulturkonzept zu tun.

Jahrelang waren die Veranstalter vor Behörden und Sponsoren zu Kreuze gekrochen, hatten als untertänige Bittsteller immer wieder um milde Gaben gebeten um dann mit knappsten Mitteln ein Festival für experimentelles Film- und Videoschaffen sowie neue Medien durchzuführen. Allen Widrigkeiten zum Trotz hat sich die Viper im Laufe von 19 Jahren vom Vorortereignis «Krienser Filmtage» zu einem Festival von internationaler Bedeutung gemausert. Fast scheint es, dass dies von den Luzerner Kulturmanagern unbemerkt blieb. Nicht so in Basel,  das sich als Medienstadt profilieren möchte. Dort geriet das Parlament geradezu in Euphorie, als es einige hunderttausend Franken zur Unterstützung der Viper sprechen durfte und damit das Festival abwerben konnte.top

Reitstelle, Gaskessel und Schlachthöfe

Dabei hatte Luzern schon Mitte der 80er Jahre damit begonnen, exemplarisch vorzuleben, wie eine Stadt zu neuem Kulturbewusstsein aufbricht. Die Innerschweizer wollten nicht länger in der Klasse des dumpfen Mittelmass spielen. Während Jahren brüteten Expertengremien aller Art über Leitbilder und Konzepte. Man bemühte Hayek und bekniete Karajan, jede Kultursparte, jeder Jodelchor, ja selbst das Gewerbe wurde in die Planung involviert und mit der Aussicht auf prosperierende Zeiten gelockt. Und während in anderen Städte der Kampf der alternativen Szene um Reitställe, Gaskessel, ausgediente Schlachthöfe oder Stadtgärtnereien auf der Strasse  ausgetragen wurde, schenkte das Establishment in Luzern den Jungen und sogenannt Linken gleich mehrere Gebäude zur Selbstverwirklichung - ein ehemaliges Gefängnis an der Peripherie der Stadt, die Styger-Scheune «Schüür» und einen Teil des Fabrikareals «Boa».

Was dabei auf der Strecke blieb, tritt heute immer deutlicher zutage: Kulturpolitische Fragen wurden weggeschwiegen, gesellschaftliche Konflikte nicht ausgetragen. Dass das kein Versehen war, sondern System hatte, zeigte sich immer dann, wenn kleine Gruppen wie etwa die Luzerner Frauenliste auf inhaltliche Mängel hinwies; wenn sie ein «do, re, mi, fa, soo nicht» anstimmte. Protest wurde in Luzern schlicht ignoriert.

Seichte Inhalte

Der verpasste Diskurs mag erklären, warum heute, da man im kulturpolitischen Alltag angekommen ist,  keine Goldgräberstimmung mehr herrscht. Im Wettbewerb um die Gunst des Publikums streiten nämlich mittlerweile derart viele Veranstalter in den diversen Stätten gegeneinander, dass das Gebotene immer seichter wird. Omnipräsent ist diesbezüglich vor allem Nouvels Prunkstück Kultur- und Kongresshaus KKL: Es bietet von klassischen Konzerten über Opernchöre mit konzertanten Aufführungen des Nabucco oder der Carmen, über Schwanensee-Ballette, Techno-Quickie, Gospel, Jazz und Musical bis zu Peter Reber und dem Singkreis Maihof alles, was das Herz an Trivialem und Gefälligem begehrt. Das KKL dürfte denn auch ein gutes Ergebnis einfahren.

Aber sonst? Die Statistik über die letzten zehn Jahre belegt eindrücklich, wie die Zahl der Kultur-Besucher so ziemlich unverändert geblieben ist, die einzelnen Institutionen jedoch immer weniger frequentiert werden. Bei der «Boa» ist die materielle Lage inzwischen geradezu verzweifelt, die Schüür und das Kleintheater kämpfen ebenso mit Finanzproblemen, der Open-air-«Leue Rock» fand dieses Jahr nicht einmal mehr statt. Und es ist absehbar, dass alles noch viel schlimmer wird, wenn im kommenden Frühling die Stadthalle mit modernster Bühnentechnik im KKL eröffnet.top

Das trifft vor allem das Luzerner Dreisparten-Theater. Dort versteht das altgediente Abonnenten-Publikum  seit dem Direktionswechsel die Kulturwelt eh nicht mehr. Und so kommt es, dass dieser Tage am falschen Objekt die Diskussion über Inhalte urplötzlich ausgebrochen ist: Am Programm des Theaters. Parlamentarier schreiben zuhauf Vorstösse und entrüstete Zuschauer tun ihren Unmut in Leserbriefen kund. Sie fordern bekanntere Schauspiele und keine Experimente, bejammern das Fehlen des schönen Wolfsschlucht-Dekors in früheren Inszenierungen des Freischütz, beklagen die lausigen Klamotten, das Neonlicht und die muffigen Militärschlafsäcke. Und der Detaillistenverband, der traditionsgemäss Theater-Billette an seine Mitglieder verkauft, droht unverblümt, vermehrt die Operettenbühnen im Entlebuch, in Sursee und Arth zu berücksichtigen. Als Folge solcher Kritik  singt dann eine hervorragende Bettina Jensen selbst an einem Samstagabend vor ziemlich leeren Reihen die Agatha in einem zumindest erfrischend und mit Ironie inszenierten Freischütz.

Corpus erectum

An den Musikaufführungen manifestiert sich seit jeher der Geist der Provinz im Umgang mit dem Urbanen. Vor 12 Jahren war es der damalige CVP-Grossstadtrat Ruedi Bürgi, der im Parlament in einem bühnenreifen Auftritt Ungereimtheiten am Stadttheater angeprangert hatte - konkret das während der Ouvertüre zu Orpheus Unterwelt auf dem Vorhang abgebildete  männliche «Corpus erectum». Auch verstand er nicht, warum im «Frühlingserwachen» ein nackter Mann  auftrat und schon gar nicht, warum dieser vor dem Selbstmord die Unterhose wieder anzog. Damals hatte Horst Statkus das Direktionszepter am Theater übernommen. Doch wer gehofft hatte, er würde an dem von seinem Vorgänger Jean-Paul Anderhub begonnenen Diskurs über neue Ausdrucksformen anknüpfen, sah sich bald enttäuscht.

Nicht, dass Statkus nichts Neues probiert hätte. Nur mochte oder konnte ein Grossteil des Publikums, jenes mit verfestigten Sehgewohnheiten  und der instinktiven Voreingenommenheit gegen Neues, dem nicht mehr zu folgen. Orientierungshilfe hätte vielleicht die öffentliche Auseinandersetzung mit den Inhalten liefern können. Statt dessen zogen sich die Besucher schmollend zurück. Aber erst jetzt kommt es zum eigentlichen Aderlass – vor allem bei den Abonnenten, von denen fast ein Drittel gekündigt hat. Denn die neue Direktorin Barbara Mundel stellt so ziemlich alles auf den Kopf - und das ist etwas vom Spannendste, was die lokale Kulturszene derzeit zu bieten hat.

Bleibt die Frage, wie es in Luzern weitergehen soll. Hoffnungen weckt ein neues städtisches Kulturleitbild, das aufs Jahr 2000 in Aussicht gestellt worden ist. Doch auch darüber findet keine öffentliche Debatte statt. Die Kulturmächtigen bleiben unter sich und beraten hinter verschlossenen Türen.»top

November 1999