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Ladenöffnungszeiten:
Eine schöne Bescherung
VON VERA BUELLER
Weihnachten
stand vor der Tür. Und die Winterthurer Ladenbesitzer hatten von ihrem
Stadtrat vorweg ein grosszügiges Geschänkli erhalten: Sie durften an einem
Sonntag im Advent ihre Geschäfte und damit dem Christmas-Konsum Tür und
Tor öffnen. Derweil sollte das Personal an jenem vermeintlichen Ruhetag
mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Lohnzuschlag von 50 Prozent bedacht
werden. So auch Sabine Stutz (Name geändert), die seit anderthalb Jahren
als Verkäuferin in einem Musik- und Elektronikunternehmen angestellt war.
Die Zahltagabrechnung vom Dezember sah dann aber ganz anders aus: Sie
bekam 250 Franken weniger als sonst üblich, weil sie angeblich nicht den
erwünschten Umsatz erwirtschaftet hatte. Von einem Sonntagszuschlag keine
Spur. Sabine Stutz reklamierte beim Personalchef und erhielt als Quittung
die Kündigung. Jetzt geht sie gemeinsam mit der Gewerkschaft VHTL (Verkehr,
Handel, Transport, Lebensmittel) gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber vor.
Auch andere, ähnlich gelagerte Verfahren
sind derzeit vor Schweizer Arbeitsgerichten hängig oder werden angestrebt.
Dennoch scheint das Vertrauen der VHTL-Gewerkschafter in gesetzliche Vereinbarungen
über die Arbeitsbedingungen des Verkaufspersonals ungebrochen: Nachdem sie
sich in Zürich mit den Unternehmern auf bessere Arbeitsschutzvorschriften
geeinigt hatten, liessen sie sich voll in deren Abstimmungspropaganda für
erweiterte Ladenöffnungszeiten einspannen. Gemeinsam mit dem Kaufmännischen
Verband, der City-Vereinigung und dem Gewerbeverband pries der Zürcher VHTL
in Inseraten gar ein entspanntes Einkaufen ohne Hektik und Stress täglich
bis 20 Uhr als «Kundenfreundlichkeit vom Feinsten» an. Mit Erfolg.
Absehbare Spätfolgen
Das deutliche Ja des Zürcher Stimm-Volkes
dürfte indes absehbare Spätfolgen produzieren. Denn zweifelsohne ist damit
ein Prozess kollektiven politischen Umdenkens in der Verkaufsbranche in Gang
gekommen: Einerseits sind die Gewerkschaften nicht mehr instinktiv gegen eine
Liberalisierungen bei den Öffnunsgzeiten eingenommen. Andererseits hat die
Arbeitgeberschaft erkannt, dass ohne arbeitsrechtliche Einigung nichts geht.
Zumal im Nachbarkanton Zug am gleichen Abstimmungswochenende punktuell erweiterte
Ladenöffnungszeiten deutlich verworfen wurden - dort waren die Sozialpartner
wie bisher immer üblich gegen- statt miteinander angetreten.
In wieweit die Zürcher Vereinbarung
zwischen der City-Vereinigung, dem Gewerbeverband, dem Kaufmännischen Verband
und dem VHTL dereinst allerdings vor Arbeitsgericht bestehen kann, wird sich
erst noch zeigen. Denn es handelt sich dabei nicht um einen Gesamtarbeitsvertrag
(GAV) wie ihn etwa die Migros und Coop kennen. Und dafür, «dass sich die Ladenbetreiber
nicht mit einem GAV in eine sozialpartnerschaftliche Bindung einlassen wollten,
muss es ja Gründe geben», gibt die jüngste und kleinste Dienstleistungsgewerkschaft
der Schweiz, die Unia mit ihrer Zentralsekretärin Corinne Schärer zu Bedenken.
Zumindest der Unia wird man später nicht vorwerfen können, gar blauäugig gewesen
zu sein. Sie stemmte sich konsequent gegen den Zürcher Pakt mit den Arbeitgebern
und damit gegen den VHTL.
Vor allem warnt sie vor neu sich abzeichnenden
Entwicklungen: Statt zusätzliches Personal für längere Öffnungszeiten einzusetzen,
setzt man es einfach anders ein. In der Branche ist vom «Ausdünnen über die
Mittagszeit» die Rede. So muss Anna Frey, Verkäuferin im Stanser Länderpark,
neuerdings täglich bis 20 Uhr arbeiten, hat dafür aber eine Mittagspause von
drei, manchmal auch vier Stunden. Da sie auswärts wohnt, sitzt sie ihre «Freizeit»
meist im Shoppingzenter ab. Das geht auf Kosten des Familienlebens. «Und abends,
wenn ich nach Hause komme, schläft der Kleine oft schon». Dies bei einem Lohn
von knapp 2500 Franken. Noch. Denn die Arbeit auf Abruf erfreut sich bei den
Ladenbetreibern zunehmender Beliebtheit. Angestelltenverträge wie beispielsweise
der eines Supermarktes in Dietikon mit einem Grundlohn von 9 Franken pro Stunde,
inklusive Ferien- und Feiertagsentschädigung, sind längst keine Ausnahme mehr.
Ein Drittel der Angestellten in der Verkaufsbranche weiss heute bereits nicht
mehr, wie hoch am Ende des Monats das Gehalt sein wird.
Totale Liberalisierung - quasi
notgedrungen
Eine gefährliche Entwicklung, denn die
Diskussion über liberale Ladenöffnungszeiten wurde bereits von der Wirklichkeit
überholt. Das zeigt sich nicht nur zur Vorweihnachtszeit, wenn fast in
allen grösseren Ortschaften das sonntägliche Idyll durch christlichen
Konsum ersetzt wird. Auch unter dem Jahr nutzt man den Handlungsspielraum
des Schweizer Arbeitsgesetzes immer mehr aus: zusätzliche Abendkäufen,
verschobene Grenzen der Tagesarbeitszeit nach oben und Sonderbewilligungen
für einzelne Branchen oder Anlässe überziehen das Land. Und sobald irgendwo
eine Neuerung eintritt, doppelt die Nachbarregion mit einer noch raffinierteren
Variante nach. So kennt mittlerweile jeder Ort, jedes urbane Zentrum und
jedes Einkaufsmekka in der Agglomeration wieder andere Öffnungszeiten.
Diese unterschiedliche Handhabung hat zur Folge, dass das Einkaufen für
den Konsumenten und die Konsumentin immer komplizierter wird, die Orientierungslosigkeit
ist komplett. Das hat freilich System, auch Salamitaktik genannt. Denn
es ist es nur mehr eine Frage der Zeit, bis die totale Liberalisierung
kommt - quasi notgedrungen.
November 1997
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