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 Lebenserwartung:
Das Ende der Unersterblichkeit

 

VON WINA BILLERS

 Bisher liefen Diskussionen über die Sozialversicherungen immer nach demselben Schema: Die Linke wies auf Lücken im sozialen Netz hin, auf die Notwendigkeit eines flexiblen Rentenalters, auf die mickrigen Renten, die nicht zur Existenzsicherung reichten. Und die Rechte? Sie brauchte nur das Totschlagargument Demografie anzuführen, und die Sache war gelaufen. Was wollte man dem vermeintlichen Naturgesetz schon entgegenhalten, dass die Menschen immer älter werden und deshalb das fürs Alter zurückgelegte Geld immer länger reichen muss.

Beide Säulen der Altervorsorge, AHV und BVG, sind diesem Damoklesschwert längere Lebenserwartung unterworfen - wenn auch in unterschiedlichem Mass. Während die umlagefinanzierte AHV stärker vom Zahlenverhältnis von Beitragszahlern zur Rentenbezügern - also vom Nachwuchs - abhängt, spürt die im Kapitaldeckungsverfahren finanzierte zweite Säule eine höhere Lebenserwartung unmittelbar.

Die Linke hatte deshalb zunächst einen schweren Stand, als der Bundesrat mit der Begründung höhere Lebenserwartung in der anstehenden BVG-Revision tiefere Renten wollte - zumal Bürgerliche und die Versicherungsbranche sofort in den bundesrätlichen Chor einstimmten. Doch jetzt widerlegen ausgerechnet die Statistiker der Eidgenössischen Versicherungskasse (EVK) die vermeintlich logische Rechnung: Sie haben festgestellt, dass die Lebenserwartung bei den Frauen gegenüber 1990 beträchtlich zurückgeht - bei einer heute 65jährigen um ein halbes Jahr (2,6 Prozent), Demnach kann sie heute noch damit rechnen, 85,4 Jahre alt zu werden.

Die Nachricht von dieser sinkenden Lebenserwartung der Frau hat in der Versicherungsbranche prompt für Unruhe gesorgt. Hat sich das Gewerbe doch schon Hoffnungen auf eine Geschäftsausweitung als Folge der geplanten Rentenkürzung in der 2. Säule gemacht: Mehr Lebensversicherungen, mehr Versicherungen in der Säule 3a, mehr freie Reserven in den Pensionskassen.

Was also tun gegen die schlimmen Zahlen der EVK? Am besten deren Wissenschaftlichkeit bestreiten. Gregor Ruh vom Schweizerischen Pensionskassenverband begründet seine Zweifel gar damit, dass es sich bei der Pensionskasse des Bundes lange Zeit "um eine Chaos-Kasse" gehandelt habe.

Das sind neue Töne, denn bislang galten die Daten der EVK, die alle zehn Jahre erhoben werden, in der Branche als das Mass aller Dinge. Vor allem für die Pensionskassen waren sie unverzichtbar, da sie den Risikoverlauf aufzeigten und damit Aufschluss darüber gaben, ob die Rückstellungen bei den Kassen genügen.

Die Angst vor den neuen Zahlen ist bei den Protagonisten der geplanten BVG-Reform allerdings begründet: Die Daten stellen die gesamte Revision in Frage, mit der die Landesregierung einerseits das Rentenalter für Mann und Frau auf 65 Jahre ansetzen, andererseits den Umwandlungssatz senken will. Der Umwandlungssatz gibt an, zu wie vielen Prozent das bei Erreichen des Rentenalters vorhandene Kapital in eine lebenslange Rente umgewandelt wird. Heute liegt der Umwandlungssatz bei 7,2 Prozent. Wurden beispielsweise einem Arbeiter im Laufe seiner Berufstätigkeit 100'000 Franken als persönliches Kapital bei der Pensionskasse gutgeschrieben, betrug seine Jahresrente bisher 7200 Franken. Geht es aber nach dem Willen des Bundesrates und nach den veralteten Lebenserwartungszahlen, werden es künftig nur noch 6,65 Prozent sein - 550 Franken weniger.

Der Versicherungsmathematiker Olivier Kern hat nun auf der Basis der neuen EVK-Zahlen ausgerechnet, dass bei einheitlichem Rentenalter 65 der Umwandlungssatz bei 7,21 Prozent liegt - also gegenüber heute sogar leicht erhöht werden könnte. Haben sich bisher alle Experten geirrt? Niklaus Fäh, interimistischer Leiter der Bundespensionskasse, musste annehmen, dass die neuesten Zahlen wie eine Bombe einschlagen würden. Doch sie sind gut abgesichert. Sie wurden in Zusammenarbeit mit dem Institut für mathematische Statistik und Versicherungslehre der Uni Bern und der Pensionskassen-Beratungsfirma Chuard AG erstellt. Für die Daten legt Niklaus Fäh seine Hand ins Feuer.

Dennoch wird jetzt von der Versicherungsbranche als Richtschnur plötzlich die viel kleinere und weniger repräsentative Statistik der Pensionskasse der Stadt Zürich propagiert. Deren Erhebung sagt für Mann und Frau fast schon Unsterblichkeit voraus. Schützenhilfe bekommen die EVK-Zähler allerdings vom Bundesamt für Statik. Hier zeigt sich ebenfalls, dass der Aufwärtstrend deutlich zurückgeht.

Die Feststellungen von EVK und Bundesamt sind auch plausibel: Mit zunehmender Erwerbstätigkeit ist die Frau den gleichen Risiken ausgesetzt wie der Mann - wenn man davon ausgeht, dass Arbeiten ein Risiko ist. Und dass immer mehr Frauen berufstätig sind, bestreitet niemand. Damit ist den Sozialversicherungen gleich mehrfach gedient: Weil die Frauen mehr und wegen des höheren Rentenalters länger arbeiten, fliessen zusätzliche Gelder in die Töpfe der AHV und der beruflichen Vorsorge. Und weil sie wegen der Arbeit weniger alt werden, bleibt noch mehr Geld im Sozialversicherungssystem. Nur eine Aufgabe bleibt für die Frauen noch zu lösen, sie müssen für die AHV genügend Kinder produzieren.

Mai 2001

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