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 Berufsbildung:
Lehrabschluss in immer teureren Etappen

 

VON GREGOR LUTZ

 An der Luzerner Hochschule für Gestaltung und Kunst wird die Schöpfungsgeschichte neu definiert. Die angehende Grafikerin Manuela Pfrunder hat sämtliche Ressourcen der Erde zusammengezählt und auf die Weltbevölkerung verteilt. Jeder Mensch ist ein Land und erhält demnach Wald, Wiese, Wasser, Weizen, Oliven, Sonnenblumen oder auch Seide zugesprochen. Jedes 15. Jahr gibt's eine Kuh, alle 70 Jahre ein paar Jeans, nach 164 Jahren ein neues Auto und täglich 0,5 Deziliter Coca Cola. 60 Tage pro Jahr leidet man an Hunger und jede Frau bringt 2,8 Kinder zur Welt. Eine einheitliche Zeitzone führt überdies dazu, dass 24 Stunden aus 1000 Beats à 1 Minute und 26 Sekunden bestehen. Und so weiter.

Das vorgegebene Thema zu dieser Abschlussprüfungsarbeit lautete "uniform". Hätte das Prüfungsstichwort "Berufsbildungsreform" geheissen, wäre das Resultat wohl ähnlich ausgefallen: Da wird uniform alles neu strukturiert, streng den Gesetzen der Ökonomie folgend. Bildungspolitiker begründen diesen Prozess mit Herausforderungen der heutigen Informations- und Wissensgesellschaft. Und sie versprechen unter dem Motto "Ein Leben lang lernen" viele bunte Bausteine, die weiter- und fortbilden sollen: dual, berufsbegleitend, praxisnah oder auch universitär.top

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Bei bestenfalls stagnierenden finanziellen Mitteln wird der Effizienzdruck im Bildungssystem erhöht. Mit Leistungsverträgen und Wettbewerbselementen in den Schulen und Ausbildungsstätten soll das Humankapital für die Anforderungen der Wirtschaft die da heissen Mobilität und Flexibilität fit getrimmt werden. Unaufhaltsam schreitet die Ökonomisierung der Bildung voran.

Abbau bei den Grafikern

Rentabilitätsberechnungen haben bereits dazu geführt, dass die Lehrdauer einzelner Berufe gekürzt worden ist. Beispielsweise bei den Grafikern. Das neue Ausbildungsreglement entstand auf Druck der Wirtschaft, namentlich der Branchenverbände. Sie machten geltend, dass der sogenannte Vorkurs zur Ausbildungsdauer dazu gezählt und deshalb die Lehre um ein Jahr auf drei gekürzt werden könne. Der Vorkurs war bis dato nicht berufsspezifisch ausgerichtet. Er bot den Schülern vielmehr die Möglichkeit, ihre gestalterischen Fähigkeiten zu erkennen und sich über die weitere Ausbildung klar zu werden. Soll dies auch in Zukunft so bleiben, müssen die Ateliers und Fachschulen den Grafikern mehr Lehrstoff als bisher in drei statt vier Jahren einpauken. Denn die Berufsanforderungen sind gerade bei den Gestaltern durch die wachsende Bedeutung von Kommunikation und Informatik gestiegen.

Alles deutet jedoch darauf hin, dass in der gewöhnlichen Lehrzeit gar keine Allround-Spezialisten mehr ausgebildet werden sollen. "Das wäre so, wie wenn man aus einem Schreiner einen Innenarchitekten machen würde", wie sich Rolf Peter vom Bundesamt für Berufsbildung und Technologie (BBT) ausdrückt. Gefragt sei - von der Wirtschaft - vielmehr eine solide, einfache und gekürzte Grundausbildung auf (Lohn-)Stufe Facharbeiter. Investiert werde hingegen in die Weiterbildung. So habe der Grafiker künftig die Möglichkeit, in einem Zusatzjahr an einer Gestaltungsschule "Designer" zu lernen, die Berufsmatura und schliesslich die Fachhochschule für visuelle Kommunikation zu absolvieren. Entsprechende Pilotversuche mit einem Designer-Zusatzjahr laufen bereits in Basel und Sierre.top

Damit wird exemplarisch vorgelebt, wohin die Entwicklung läuft: Ohne Weiterbildung geht nichts mehr; man sammelt Abschlüsse. Der Anteil der hundskommunen Lehre wird dabei immer kleiner und sie verliert an Stellenwert. Dabei hat das Parlament in den Krisenjahren der Neunziger noch mit zwei Lehrstellenbeschlüssen und einer Subventionsspritze von insgesamt 100 Millionen Franken versucht, das serbelnde Image der Lehre aufzupolieren und zusätzliche Ausbildungsbetriebe zu finden. Man hatte erkannt, dass die Berufslehre für den Arbeitsmarkt von zentraler Bedeutung ist. Viele Experten sind der Meinung, dass die Schweiz ihre vergleichsweise niedrige Jugendarbeitslosigkeit der Existenz eines Berufssystems mit starkem Praxisbezug zu verdanken habe. Denn die Berufslehre hat den Vorteil, dass sie aufgrund ihrer Verankerung in der Arbeitswelt den Übergang der Jugendlichen vom Bildungssystem ins Erwerbsleben deutlich erleichtert. Und sie bietet wegen der praktischen Ausrichtung schulschwächeren Jugendlichen die Möglichkeit, sich trotz ihres Nachteils beruflich zu qualifizieren.

Zunehmende Negativbilanz

Politiker und Beamte krempeln nun in euphorischem Reformeifer gar leichtfertig das Bewährte um. Derweil leiden gestandene Lehrkräfte, die solchen Aufbruch letztlich tragen müssen, zunehmend an der Negativbilanz von pädagogischem Aufwand und Ertrag. Insbesondere die Lehrmeister in den Betrieben. Denn die laufende Reform des Berufsbildungsgesetzes - ein Kind der Rezession - sieht eine Ausdehnung des schulischen Bereiches vor. Soziale Kompetenz wird demnach in der Theorie gelernt und nicht mehr im Ausbildungsprozess erfahren. Hat ein Lehrling Karriereperspektiven vor Augen, sollte er zusätzlich die Berufsmatura machen. Statt an der Werkbank im Lehrbetrieb zu stehen, drückt er dann etwa die Hälfte der Arbeitswoche die Schulbank. Das strapaziert den Goodwill vor allem der kleinen und mittleren Unternehmen (KMU), aus denen zu einem wesentlichen Teil der Schweizer Lehrstellenmarkt von derzeit 165'606 Ausbildungsplätzen besteht.

Folgerichtig stellt das Gewerbe der angestrebten Berufsbildungsreform eher schlechte Noten aus. Am liebsten wäre ihnen, ihre Sprösslinge würden - wenn es denn schon die Berufsmatura sein muss - diese in einem vierten Jahr mit vollem Schulpensum und nicht wie heute mehrheitlich üblich während der Lehre absolvieren. Will heissen: auf eigene Rechnung. Wer über keine einkommensstarke Eltern verfügt, schafft dies kaum. Hätten die Baumeister des Bildungssystems tatsächlich den Willen, möglichst viele auf den höheren Bildungsweg mitzunehmen, müssten sie auch das Stipendienwesen reformieren. Nur so könnte das Begabungsreservoir auch von Jugendlichen sozial schwächerer Familien ausgeschöpft werden.top

Das Duale System - Lehrstelle und Schule - ist folglich vor allem eine Angelegenheit von Kosten und Subventionen. Doch ausgerechnet die Finanzierungsfrage wird mit dem neuen, im Entwurf vorliegenden Berufsbildungsgesetz nicht gelöst. Da streiten sich Bund und Kantone über Beteiligungsprozente und die Gründung eines von allen, auch von potentiellen Arbeitgebern gespeisten Bildungsfonds ist in weite Ferne gerückt. Dabei ist der Finanzierungsbeitrag der Wirtschaft mit Nettokosten von 1,7 Millionen Franken gemessen an den Aufwendungen der öffentlichen Hand für die Berufsbildung (fast 3 Milliarden) und die gesamte Bildung (20 Milliarden) eher bescheiden. Die Hoffnungen vieler Reformer ruhen nur mehr auf der sich in der Pipeline befindenden Lehrstelleninitiative lipa, die von der Gewerkschaftsjugend lanciert wurde und das Recht auf ausreichende berufliche Ausbildung mit entsprechender Finanzierung fordert.

Altes Gewerbe stirbt aus

Dass die Berufsbildung einer Reform bedarf, bestreitet niemand. Ist doch die Lehre historisch bedingt auf manuelle Tätigkeiten fixiert. Aber in der Produktion nimmt die Beschäftigung stetig ab; altes Gewerbe stirbt aus; ganze Berufsfelder verändern sich, neue wie das des Polygrafen im Druck- und Mediengewerbe entstehen; für andere Spezialisten wie den "Concepteur en multimédia" hat man sich noch nicht einmal auf eine deutsche Bezeichnung geeinigt und wo 10'000 Informatiker benötigt werden, gibt es gerade mal 2000 entsprechende Lehrstellen. Auch werden heute in fast allen Berufen Sprachgewandtheit, Kreativität, Sozialkompetenz, Vielseitigkeit und Flexibilität verlangt - da kann manch ein Lehrmeister längst nicht mehr mithalten.

Das Ansinnen, einen Prozess kollektiven Lernens im Volk in Gang zu bringen, ist also durchaus löblich. Nur müssen in einem solchen "Zukunft ist Lernen"-System immer auch Schulschwache und langsam Lernende Platz haben. Die Reformkräfte haben sich dafür die "berufspraktische Bildung" ausgedacht. Sie ersetzt die Anlehre und kantonale praktische Lehren, dauert zwei Jahre und schliesst mit einem Eidgenössischen Berufsattest ab. Wer Lernschwierigkeiten hat, müsste aber entsprechend gefördert werden. Es wäre wohl gescheiter, die Ausbildung um ein Jahr auszubauen statt auf zwei Jahr zu beschränken. Oder zumindest mit einem individuellen Coaching zu begleiten, wie es der schweizerische Gewerkschaftsbund fordert. Ansonsten droht das neue Gesetz absehbare Spätfolgen zu produzieren: Eine Schicht immer besser Qualifizierter und eine, die auf unterstem Niveau stehen bleibt.

Juli 2000

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