Lehrstellenbechluss
I und II:
Neue Lehrstellen werden outgesourced
VON GREGOR LUTZ
Sommer
1997: Das Schicksal Tausender von Jugendlicher ohne Lehrstelle bewegt
die Schweiz. Die Medien überbieten sich förmlich mit Reportagen
von der Schulabgängerfront und mit Analysen über die Ursachen
der Krise - über konjunkturelle und strukturelle Gründe. Heute
ist die Situation auf dem Lehrstellenmarkt kein Thema mehr. Doch gerade
hier ist in den letzte drei Jahren Bemerkenswertes passiert: In atemberaubendem
Tempo hat das Land auf die Lehrstellenmisere reagiert.
Ausgelöst wurde
die Offensive durch den ersten Lehrstellenbeschluss des Bundes von 1997,
der Sofortmassnahmen in der Höhe von 60 Millionen Franken eingeleitet
hatte. Daraus resultierte eine eigentliche Berufsbildungsgrosskampagne
mit 290 Projekten und einem Potential von 10'000 neuen Lehrstellen. Zwar
hatte sich damit die Lage schnell entspannt, aber grundsätzliche
Probleme bestanden nach wie vor: Es fehlten Hightech-Lehrstellen, es mangelte
an Ausbildungsangeboten für schulisch schlecht Qualifizierte, Mädchen
entschieden sich weiterhin für einen viel zu engen Bereich von typischen
Frauenberufen und nur mehr 15 Prozent der Betriebe waren gewillt, Lehrlinge
ausbilden. Hier sollte ein zweiter Subventionsschub über 100 Millionen
Franken mit neuen, innovativen Ausbildungskonzepten bis ins Jahr 2004
wirken.
Lehrstellen outsourcen
Die Zuger gingen das
strukturelle Problem als erste fundamental an: Auf der Suche nach ausbildungswilligen
Betrieben waren sie auf diverse kleinere Firmen gestossen. Doch sie hatten
sicht derart spezialisiert, dass sie keine umfassende Schulung bieten
konnten. Die Baumeister des Bildungssystems machten aus dieser Not eine
Tugend und kopierten einfach das Konzept des Outsourcen. Daraus entstand
ein völlig neuartiges Modell für die Lehrlingsausbildung: Verschiedene
Firmen gründen einen Ausbildungsverbund, der durch Jobrotation den
Jugendlichen eine umfassende Lehre gewährleistet, indem jede Firma
einen der verschiedenen Ausbildungsbereiche abdeckt.
Gecoacht werden die
Lehrlinge - ab 2001 sind es im Kanton Zug bereits 48 - durch eine zentrale
Geschäftstelle, die von Silvia Thalmann vollamtlich geleitet wird.
Sie koordiniert die Einsätze, rekrutiert Lehrlinge, ist fürs
Marketing zuständig und zahlt gar die Löhne. Den angeschlossenen
Betrieben wird nur mehr Quartalsweise Rechnung gestellt, ansonsten haben
sie mit der ganzen Ausbildungs-Administration nichts mehr zu tun.
Solche Verbünde
sind nun überall im Lande gross im Kommen. Bei der Deutschschweizerischen
Berufsbildungs-Konferenz sind bereits über 30 registriert - daneben
existieren noch zahlreiche kleine Allianzen. Nicht immer organisiert eine
externe Stelle den Verbund. Im solothurnischen Thal-Gäu-Bipperamt
koordiniert beispielsweise Ausbildner Willi Moser von der Papierfabrik
Tela die Schulungsprogramme. Das reicht von der Lehre als Metzger über
den kaufmännischen Angestellten bis zum "Mechapraktiker".
Ein Mann aus der
Privatwirtschaft
Dass die Solothurner
die Führung den Gewerbetreibenden selbst überlassen, kommt nicht
von ungefähr. Sie hatten schon mit den Mitteln des ersten Lehrstellenbeschlusses
einen Mann aus der Privatwirtschaft fürs Lehrstellenmarketing beigezogen
und mit Jürg Wyler einen Unternehmer gefunden, der von den Gewerblern
gleich akzeptiert wurde. Auch kam ihm zu gute, dass er aus der Praxis
die Tricks und Ausreden potentieller Lehrmeister kannte, die sich vor
der Verantwortung drücken wollten. Innert nur drei Jahren schaffte
Wyler 600 neue Lehrstellen.
Andere Bildungsreformer,
wie etwa die Zürcher, betrieben ebenfalls mit Erfolg ein intensives
"Klinken putzen" bei den Betrieben. Oder aber eine konsequente
und professionelle Öffentlichkeitsarbeit, die in Luzern im kommenden
Herbst in einer grossen Berufsschau gipfeln wird. Derweil gehen die Aargauer
mit ihrem Berufsinspektorenfahrzeug "Beetle" - bunt geschmückt
mit den Logos der Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen - täglich
auf die Strasse. Und im Kanton Bern können die Schulen einen Stift
mieten, der seinen Beruf der Klasse vorstellt. Dieses "Rent-a-Stift"-Projekt
macht inzwischen in der ganzen Schweiz Schule.
Von den Arbeitgebern
wird oft behauptet, die schlechte schulische Vorbildung der Jugendlichen
sei ausschlaggebend, weshalb sie Lehrlinge ablehnten. Darauf haben fast
alle Kantone mit speziellen Programmen reagiert. Die Zürcher planen
beispielsweise, ein Werkjahr in der Form eines Basislehrjahres zum Brückenangebot
zwischen Schule und Berufsausbildung umzubauen, das unter Umständen
gar der Lehrzeit angerechnet werden kann. Und im Informatikbereich wird
den Jugendlichen mancherorts schon vorweg der Umgang mit "Word"
und "Excel" beigebracht - die Lehrmeister mögen sich damit
nicht abmühen müssen. Die Basellandschafter haben gleich eine
eigene Werkstatt gegründet, wo Jugendliche erst mal lernen, pünktlich
zu sein und sich an einen geregelten Tagesablauf zu gewöhnen. Ausserdem
bieten sie Begabten, aber Betreuungsbedürftigen, die Chance, vor
der Lehre ein Schullager und während der Ausbildung samstags spezielle
Kurse zu besuchen.
Lernprogramme online
Im Tessin gibt es
solche Samstagskurse bereits. Doch lassen sich solche Schulungen nicht
überall im verwinkelten Kanton organisieren. Deshalb haben sie nun
ein Projekt lanciert, mit dem Lernschwache per Internet Unterstützung
erhalten. Sie werden künftig die Lernprogramme wann immer sie wollen
online abrufen können, zu Hause oder auch mit pädagogischer
Begleitung in den Gewerbeschulen. Mit von der Partie bei diesem Vorhaben
sind die Bündner, die mit einem ähnlichen Projekt bereits in
der Erwachsenenbildung Furore gemacht haben.
Ebenfalls an Lernschwache
richtet sich das Angebot neuer Berufe wie den des Mecha-, des Elektro-
oder des Betriebspraktikers. Das sind praxisorientierte Lehren, die quasi
den Gegenpol zu den immer anspruchsvoller werdenden Lehren mit Berufsmatura
bilden. Vor allem im Informatik- und Kommunikationsbereich laufen die
Ausbildungen nach oben davon. Schliesslich will sich die Bildungspolitik
den Herausforderungen der Informationsgesellschaft stellen.
Seit 1997 sind durch
koordinierte Anstrengungen von Bund und Kantonen in der Schweiz bereits
10'000 neue Informatik-Lehrstellen bereitgestellt worden. Doch das genügt
bei weitem nicht. Nun wird eine national standardisierte Informatikerlehre
geschaffen, die ab 2003 jährlich gegen 5000 Jugendliche anziehen
soll. Das neue Konzept sieht ein einheitliches Basisjahr und Module mit
mehr Durchlässigkeit zwischen den Berufsfeldern vor. Davon verspricht
man sich eine schnellere Reaktion auf die rasant wechselnden Anforderungen
der Informatik-Branche. Um dieses ambitiöse Vorhaben umzusetzen,
ist im September dieses Jahres, alimentiert von Mitteln des zweiten Lehrstellenbeschlusses,
die privatwirtschaftlich organisierte "Genossenschaft Informatik
Berufsbildung Schweiz" (I-CH) gegründet worden.
Erhöhung des
Frauenanteils
Wie der Name der neuen
einheitlichen Berufslehre "Informatikerin/Informatiker" schon
sagt, sollen dabei besondere Anstrengungen zur Erhöhung des Frauenanteils
im Informatikberuf unternommen werden. Dies hat das Bundesamt für
Berufsbildung und Technologie auch für alle anderen Projekte des
zweiten Lehrstellenbeschlusse per Leitfaden verordnet. Anfänglich
ernteten die Beamten für ihr Ansinnen, auf diesem Weg den Frauenanteil
in der Berufsbildung zu erhöhen, Kopfschütteln: "Ob sie
nichts Schlaueres zu tun hätten?" Um so erstaunlicher sind all
die Projekte, die daraus resultierten. Die Berner haben zum Beispiel Berufsorientierungen
mit Schnupperwochen für Frauen-untypische Berufe unter dem Titel
"Nix für Mädchen" und Basislehrjahre für angehende
Informatikerinnen eingeführt. Auch im Kanton Zürich zielt ein
neues Projekt darauf hin, jungen Frauen, die sich für technische
Berufe interessieren, speziell zu fördern. Angehende Informatikerinnen
werden hier zu Symposien eingeladen und können spezielle Programmierungskurse
belegen.
Keine Frage, an Ideen,
Visionen, didaktischen und methodischen Ansätzen fehlt es den Bildungsreformern
nicht. Es mangelt schon gar nicht an Projekten. Sei es, dass Berner und
Urner Betriebe, die Lehrlinge ausbilden, sich neuerdings mit einem Label
"Klar, ich bilde aus" schmücken dürfen, dass Lehrstellen
für fremdsprachige Männer und Frauen in Schneiderateliers und
"grüne Berufe" geschaffen werden. Sei es, dass man den
Arbeitgebern auch noch dahin gehend entgegen kommt, dass der Lehrablauf
in zwei Praxisausbildungen gegliedert wird, denen Vollzeitschulblöcke
vorangehen - damit die Lehrlinge nicht während zwei oder drei Tagen
pro Woche die Schulbank drücken und im Betrieb fehlen. Wichtig ist
bei alle dem, die Vorhaben nachhaltig zu entwickeln und auf den Tag vorzubereiten,
wenn keine Lehrstellenbeschlussgelder mehr fliessen.
Dezember 2000
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