Zur Frontpage 

1 Schritt zurück Inhalt Inland

 Moorlandschaften:
Kein Indianerreservat

 

VON WINA BILLERS

Die Sonne taucht verschämt aus dem Nebelmeer. Unweigerlich fallen einem die ersten Zeilen eines Gedichts ein: «O schaurig ist's, übers Moor zu gehn...». Doch die Moorlandschaft hier am Lukmanier ist nicht unheimlich – sie ist schaurig schön. Sanft  schlängelt sich der Brenno durch die Ebene, seltene Flach- und Hochmoore, Amphibiengewässer und altehrwürdige Kiefernwälder geben der Landschaft einen besonderen Reiz.

Sara Crameri vom kantonalen Amt für Naturschutz, dem Ufficio della natura e del paesaggio, stapft sicheren Schrittes über den bei jeder Berührung schwingenden, auf einer unsichtbaren Wasserfläche aufliegen­den Boden. Der Weg führt zu einem ihrer Lieblingsplätze in der Bolla del Corno: in ein Flachmoor mit hüfthohem, in der Sonne braunrötlich schimmerndem Gras. Wenn irgendwo der Begriff «goldiger Herbst» zutrifft, dann hier. Mit dem Eigentümer dieses Flachmoors hat Sara Crameri erst kürzlich den Bewirtschaftungsvertrag ausgearbeitet. Es ist einer von Dutzenden. Denn Flachmoore sollen, im Gegensatz zu den Hochmooren, extensiv beweidet oder geschnitten werden. «Der Streueschnitt erfolgt meist erst nach dem 1. September, wenn das Gras bereits strohig geworden ist. So können auch spät blühende Arten noch versamen», erklärt die Biologin.

top

Moorschutz dank Ökobeiträgen

Ohne die traditionelle Bewirtschaftung würden die Flachmoore weitgehend unter Wald und Gebüsch verschwinden. Deshalb gibt es staatliche Beiträge für die Bauern, die sich zur Pflege und Erhaltung der Moorbiotope verpflichten. Am Lukmanier erhalten sie für Streuwiesen je nach Aufwand für jede Hektare und pro Jahr zwischen 1000 und 3000 Franken. Ausserdem werden Zuschüsse für das Einzäunen der Moore während der Sömmerungszeit ausgezahlt – wegen der Trittschäden ist eine Beweidung der Flachmoore im ganzen Tessin nicht erlaubt: 4 Franken pro 10 Meter und Jahr, plus Materialkosten. «Das ist viel, andere Kantone zahlen nur 50 Rappen», sagt Sara Crameri.

Angesichts solcher Beiträge sei die Skepsis der Landwirte gegenüber dem Moorschutz rasch gewichen. Zumal die Tessiner nicht nur «Indianerreservate» schaffen wollten. Vielmehr haben sie einen Ansatz gesucht, der die Bevölkerung für die Schönheiten der Natur sensibilisierte, ihnen aber auch eine wirtschaftliche Entwicklung ermöglicht. Dies scheint gelungen zu sein – bereits konnten 80 Prozent der Flächen, die bewirtschaftet werden müssen, vertraglich geregelt werden. «Doch Moore unter Schutz zu stellen, ist eines. Dafür zu sorgen, dass die Schutzziele nicht verletzt werden, ist etwas anderes», bringt es Sara Crameri auf den Punkt. Gerade mal anderthalb Stellen stehen für diese Aufgabe für das Lukmaniergebiet derzeit noch zur Verfügung.

top

Tausende von Arbeitsstunden

Dem aktuellen Nutzungskonzept liegen Tausende von Arbeitsstunden und zahlreiche Studien, politische Überzeugungsarbeit und viele Abende vor Ort mit den Einheimischen zugrunde. Heute stehen auch das  Patriziato generale di Olivone, Campo e Largario, das Forstamt, die Gemeinde Olivone, Blenio Turismo und die Boggesi del Lucomagno hinter dem Projekt. Die Pionierarbeit hat Paolo Poggiati geleistet, der Leiter des Amts für Naturschutz. Jedes Objekt und jedes Problem liess er beschreiben, fotografieren und inventarisieren. Sein Amt hat Kern- und Pufferzonen ausgeschieden, Pläne ausgearbeitet, Nutzungsvorschriften, Massnahmen und ein Fünfjahresprogramm (2000 bis 2005), den «Piano di gestione quinquennale», erlassen. 1,120 Millionen Franken wurden für Schutz- und Verbesserungsmassnahen bisher am Lukmanier investiert (zu 40 Prozent vom Bund getragen). Und der Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen. Eines von vielen anstehenden Problemen: Zu viele Kühe, rund 220, verbringen den Sommer auf der Alp. Den hohen Bestand gilt es zu reduzieren um Trittschäden zu vermindern.

Während der Wanderung ändert sich das Landschaftsbild laufend. Steppenartige Wiesen, zerklüftete Hügel, erodierende Böden, Tümpel, bunte Torfmoosbuckel und sanfte Vertiefungen. Die Exkursion führt auch über Weiden mit Entwässerungsgräben, die in früheren Jahren erstellt wurden, um Kulturland zu gewinnen oder die Auf­forstung zu fördern. An einigen Stellen hat man nun Holzbarrieren eingebaut, damit der Abfluss des Wassers aus dem Flachmoor gebremst wird und sich die Gräben im Laufe der Zeit wieder schliessen. Ausserdem wurden ungewollte Arten und Bäume aus den Mooren entfernt und in Laichgebieten die Tümpel stellenweise vertieft, um das Überleben von Kolonien zu sichern.

top

Sanfter Tourismus

Das Bleniotal gehört zu den ärmeren Regionen des Tessins. Es lebt vor allem von der Landwirtschaft. Industrie gibt es kaum, und die touristische Infrastruktur ist bescheiden. Die Region will künftig aber mehr Sommertouristen anlocken und gleichzeitig die Naturschutzinteressen wahren. Bereits heute keine leichte Aufgabe: Überquellende Abfallbehälter und Familien beim Picknick inmitten der Moorlandschaft geben eine Ahnung davon. An einem heissen Sommerwochenende ist die Landschaft gar zu­gedeckt mit Ausflüglern, Sonnenschirmen, Liege­stühlen, Campingsesseln und Kühlboxen. Ein Dauerproblem ist dabei das Parkieren von Autos, obwohl gebührenpflichtige Parkplätze (5 Franken pro Tag) geschaffen wurden. «Es kam schon vor, dass mitten im Hochmoor campiert wurde», erzählt Sara Crameri. Der neueste Trend sei das Baden im Bergfluss.

Rücksicht auf die Natur zu nehmen, will der örtliche Verkehrsverein Blenio Turismo den Besuchern subtil beibringen: Dazu gehören themenspezifischen Rundgänge, die in das schon bestehende Netz von Wanderwegen eingeflochten wurden. Die Signalisierungen bestehen aus Orientierungstafeln mit Angaben über naturkundliche Besonderheiten des Lukmaniers sowie Thementafeln mit Foto und Text in den 3 Landessprachen. Hilfreich ist dabei auch die Broschüre «Naturkundliche Wanderwege des Lucomagno». Man lernt darin viel über die Tier-, Pflanzen- und Steinwelt der Region, die einst von den Römern «grosser heiliger Wald» genannt wurde.

Januar 2007

top