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 Populäre Rechtsirrtümer in der Schweiz:
Warum Mord auch Totschlag ist
und der Richter keine Perücke trägt

 

VON VERA BUELLER

Zuerst hatte Philipp Clementi dem Polizisten ganz freundlich erklärt, dass er nur schnell – «für keine zehn Minuten» – Material aufgeladen und deshalb sein Auto auf dem gelben Streifen abgestellt habe. Doch der Polizist beharrte auf der Parkbusse von 120 Franken. Da platzte dem  Parksünder der Kragen und er betitelte den Beamten als «gigantisches stures A…». Er wollte mit seinen Beschimpfungen noch weiter ausholen. Aber eine Passantin hielt ihn zurück: «Seien Sie still! Sonst kommen Sie auch noch wegen Beamtenbeleidigung dran.»
Falsch. Das Delikt Beamtenbeleidigung gibt es nämlich gar nicht. Vor Gericht sind Beamte Mensch wie alle anderen auch. Deshalb macht es keinen Unterschied, ob Philipp Clementi einen Polizeibeamten oder eine Wurstverkäuferin beschimpft: Das Delikt lautet in beiden Fällen  «Beschimpfung» und gilt als Ehrverletzung. 

Genauso verbreitet – und ebenso falsch – ist die Meinung, dass man im Restaurant Anspruch hat, gratis ein Glas Leitungswasser zu bekommen und das Amtsblatt lesen zu dürfen. Der Wirt kann frei entscheiden, was er wem zu welchen Bedingungen serviert. Er darf auch für ein Glas Leitungswasser Geld verlangen.

Die Liste populärer Rechtsirrtümer lässt sich beliebig fortsetzen. Beispiele gefällig?

  • Falsch: Eltern haften immer für die Streiche ihrer Kinder.
    Richtig: Für Kinderschäden haften die Eltern nur, wenn sie die übliche Aufsichtspflicht verletzt haben.
  • Falsch: Der Samstag ist kein Werktag.
    Richtig: Auch der Samstag gilt gesetzlich als Werktag. Nur Sonn- und Feiertage sind gesetzlich geregelt.
  • Falsch: Verträge müssen schriftlich abgeschlossen werden, damit sie gültig sind.
    Richtig: Nur sehr wenige Verträge bedürfen der Schriftform – auch mündliche Abmachungen sind in der Regel bindende Verträge.           
  • Falsch: Die Inkassostelle für Radio-Fernsehempfangsgebühren (Billag) hat das Recht, in einer Wohnung nach nicht angemeldeten Fernsehern oder Radios zu suchen.
    Richtig: Auch Billag-Mitarbeiter dürfen gegen den Willen der Bewohner keine Wohnung  betreten. Dies gilt übrigens auch für den Vermieter.          
  • Falsch: Kündigungen müssen vom Arbeitgeber begründet sein.
    Richtig: Sie müssen nur auf Verlangen begründet werden.

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Von Mord und Totschlag

Woher kommen solche juristische Volksmythen? Dieser Frage ist Rechtsanwalt Ralf Höcker für Deutschland  in seinen beiden «Lexika der Rechtsirrtümer»  nachgegangen (www.ralfhoecker.de). Höcker hat dabei vier Gruppen von Ursachen ausgemacht. Erstens: «Zahlreiche Irrtümer beruhen darauf, dass sich eine Gesetzes- oder Rechtsprechungsänderung in der Bevölke­rung nicht herumgesprochen hat.» Wenn beispielweise jemand nach dem Unterschied von Mord und Totschlag fragt, dürfte er meist wohl die Antwort erhalten, dass ein Mord vorher geplant wurde, während der Totschlag aus dem Affekt heraus geschieht. Das war früher einmal so. Heute gilt sowohl Mord wie Totschlag als absichtliche Tötung. Ein Mord liegt erst vor, wenn der Täter besonders skrupellos gehandelt hat, wenn der Beweggrund, der Zweck oder die Art der Ausführung besonders verwerflich ist.

Dass Tiere keine Sachen mehr sind, dürfte sich indes herum gesprochen haben. Doch diese Gesetzesänderung hat gleichzeitig zu einem grossen Irrtum geführt: Hartnäckig hält sich das Gerücht, Tiere könnten auch als Erbe eingesetzt werden. Tatsächlich sind Tiere aber nicht erbfähig. Es besteht nur die Möglichkeit, einem menschlichen Erben oder einer juristischen Person (Organisation, Firma) Auflagen zugunsten eines Tieres zu machen.

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Die dramaturgische Wirklichkeit

Eine zweite, äusserst populäre Quelle für Rechtsirrtümer sind amerikanische und englische Filme. Wie eine Untersuchung der Ruhr-Universität Bochum belegt, sind in Deutschland (und wohl auch in der Schweiz) schon kleine Kinder fest davon überzeugt, dass Richter eine Perücke tragen und einen Hammer in der Hand halten – was keineswegs der Realität entspricht. Und niemand stört sich daran, wenn in TV-Gerichtsshows während der Verhandlung ein Überraschungszeuge in den Saal stürmt, womit das Verfahren eine unerwartete Wende nimmt. In der Schweiz müssen sämtliche Zeugen schon lange vor der Verhandlung festgelegt und allen Parteien bekannt gegen werden. Ebenso falsch ist die im Tatort-Krimi immer wieder aufgestellte Behauptung, dass es für eine Hausdurchsuchung eine Bewilligung vom Staatsanwalt braucht. Bei akuter Gefahr ist dies nicht nötig.  
Falsche Vorstellungen können sich – drittens – verankern, wenn sie von Leuten, die daraus Nutzen ziehen, immer wieder behauptet werden. Etwa dass man reduzierte Ware nicht umtauschen kann. Fehlerhafte Produkte kann man jedoch immer reklamieren. Es sei denn, die Mängel wurden im Geschäft speziell gekennzeichnet und der günstige Preis damit begründet (z.B. bei Outlet-Verkäufen).

Ein anderes Beispiel: Bauherren wollen nicht auf Schäden sitzen bleiben, die spielende Kinder auf ihrer Baustelle anrichten. Also hängen sie ganz einfach ein Schild mit der Behauptung auf, dass Eltern für ihre Kinder haften. Dies ist aber nur der Fall, wenn die Eltern die übliche Aufsichtspflicht verletzt haben.

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Phantasievolles Rechtsempfinden

«Eine vierte Gruppe von Rechtsirrtümern beruht schlicht auf Missverständnissen, die zu einer oft phantasievollen Rechtsfortbildung durch die Bevölkerung führen. Wo das Rechts- oder Moralempfinden der Bevölkerung es erfordert, wird unsere Rechtsordnung kurzerhand auch schon einmal um ganze Tatbestände ergänzt», hat Ralf Höcker festgestellt. Für ihn ist der vermeintliche Straftatbestand der Beamtenbeleidigung ein Beispiel dafür. 

Bei seinen Recherchen ist Höcker überdies die mystische Zahl drei aufgefallen: Dreimal müsse der Arbeitergeber einen Angestellten abmahnen, bevor er ihn entlassen könne. Dreimal müsse man im Restaurant nach der Rechnung fragen, bevor man es ohne zu zahlen verlassen dürfe. Wenn jemand drei Nachmieter nenne, könne er vorzeitig seine Wohnung kündigen. «In der juristischen Wirklichkeit werden sachgerechte Ergebnisse aber nicht dadurch erzielt, indem man Grenzen nach Häufigkeit festlegt», sagt Rechtsanwalt Höcker. Keine Frage, auch ein einziger Fehltritt eines Arbeitsnehmers kann schon gravierend genug sein, um eine  Kündigung zu rechtfertigen.  Und beim Fall des Nachmieters ist entscheidend, ob er für den Vermieter zumutbar ist. Da genügt es sogar, nur einen einzigen Nachmieter zu stellen..

September 2007

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Quiz

1. Muss man Sozialhilfe zurückzahlen?

a) Ja, sobald man wieder zu Vermögen kommt und man ein durchschnittliches Einkommen erzielt.
b) Nur wenn man unverhofft zu grossem Vermögen kommt - zum Beispiel Erbschaft oder Lottogewinn.
c) Nie. Sozialhilfe sind Beiträge, die à fonds perdu geleistet werden.

2. Was, wenn in einem Zug alle Plätze in der 2.Klasse besetzt sind?

a) Zweitklass-Reisende haben das Recht, sich in die 1. Klasse zu setzen.
b) Mit der Fahrkarte erwirbt man nur das Recht auf Beförderung – ohne Anspruch auf einen Sitzplatz.
c) Wer keinen Sitzplatz findet, bekommt das Geld fürs Billet zurück erstattet.

3. Wer kann gegen jemand anderen die Betreibung verlangen?

a) Wer einen gültigen Vertrag oder eine sonstige Forderung geltend machen kann.
b) Wer ein gerichtliches Urteil vorweisen kann.
c) Jedermann. Grundlos. Jederzeit.

4. Welcher Preis gilt, wenn in einem Inserat die Ware billiger angeboten wird als im Geschäft?

a) Verbindlich ist immer die Preisangabe, die sich direkt an der Ware befindet.
b) Der Preis im Inserat gilt.
c) Der Preis muss ausgehandelt werden.

5. Wer hat in einem Laden das Recht, Taschen von Kunden zu kontrollieren?

a) Alle Ladenangestellten.
b) Nur Ladendetektive, wenn sie sich als diplomierte Detektive ausweisen können.
c) Dieses Recht hat nur die Polizei.

6. Ein Badegast hat sich am Strand auf einen Liegenstuhl gesetzt, der mit einem Handtuch als bereits belegt gekennzeichnet war. Gilt die Reservation?

a) Ja, wenn das Handtuch unübersehbar ist.
b) Nur, wenn das Handtuch seinem Besitzer klar zuzuordnen ist (Name beschriftet).
c) Handtücher oder  Kleidungsstücke vermitteln keine Besitzansprüche.

7. Hat man das Recht eine Hotelreservation zu annullieren, wenn man krank wird?

a) Ja, mit einem Arztzeugnis.
b) Nein, ich bin einen verbindlich Vertrag mit dem Hotelier eingegangen.
c) Ja, wenn die Annullierung mindestens 24 Stunden vor der Anreise erfolgt.

8. Wer riskiert seinen Führerschein fürs Autofahren, wenn er betrunken sein Vehikel fährt?

a) nur Autofahrer
b) auch Velofahrer
c) auch Velo- und Rollstuhlfahrer

9. Wer macht sich strafbar der „üblen Nachrede“ beim Verbreiten von Gerüchten?

a) Der Erfinder des Gerüchts.
b) Jeder, der Gerüchte weiter erzählt.
c) Nur, wer Gerüchte weiter erzählt, die sich später als unwahr heraus stellen.

10. Wann haftet ein Autofahrer bei einem Verkehrsunfall?

a) Nur wenn er am Unfall schuld ist.
b) Es genügt, wenn das Auto am Unfall beteiligt war. Es braucht kein schuldhaftes Verhalten des Autofahrers.
c) Der Autofahrer muss eine Verkehrsregel verletzt haben, sonst haftet er nicht.

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Richtige Lösung:
1: a;
2: b;
3: c;
4: a;
5: c;
6: c;
7: b;
8: c;
9: b;
10: b;

 

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