Schutzgelderpressung:
Palermo ist überall
VON BERTOLT BILLERS
Instinktiv
spürte der Luzerner Spielsalonbesitzer Diego Marty*, dass die beiden Männer
in den Lederjacken und Trainerhosennicht zum Zocken da waren. Sie kamen in
letzter Zeit wiederholt, warfen ein paar Franken in den Geldautomaten und
schauten sich dabei in einer Art und Weise im Lokal um, als würden sie es
auskundschaften. Nach einigen Wochen begannen sie plötzlich mit Marty über
«Unfälle», «Schäden» und «Sicherheit» zu sprechen. Einer der beiden spielte
dabei demonstrativ mit dem Feuerzeug, während der andere betont höflich, mit
osteuropäischem Akzent «privaten Schutz» anbot. Der stämmige Spielsalonbesitzer
hatte begriffen: Das waren Versicherungsvertreter der besonderen Art. Er fackelte
nicht lange und wies den beiden die Tür. Dann ging er zur Polizei.
Das ist eine Ausnahme. Im Normalfall
zahlen die Opfer von Schutzgelderpressung. Denn die Angst sitzt so tief wie
die «omertà», das uralte Gesetz des Schweigens. Zumal die Erpressten oft selbst
etwas zu verbergen haben – Schwarzarbeit, Drogenhandel, Prostitution, verbotenes
Glücksspiel, Steuerhinterziehung, Schwarzbauten oder gar Geldwäscherei und
Waffenschieberei. Was in diesen Kreisen abläuft, lässt sich erahnen. Man kennt
schliesslich die Szene aus Hunderten von Filmen, wenn Borsalino-Träger plötzlich
mit der MP aus dem Geigenkasten um sich schiessen, wenn ein abgehackter Hühnerkopf
als letzte Warnung des Triaden-Geheimbunds ins China-Restaurant fliegt, wenn
dem russischen Wirt in Berlin gedroht wird, der Oma in Sverdlovks die Ohren
abzuschneiden.
«Edle Spenden» für die PKK
Solches im Gastronomie-Alltag des
Kantons Luzern? Schwer vorstellbar. So überrascht denn die Post, die hier
den Wirten vor Wochen ins Haus flatterte: Eine detaillierte Umfrage mit dem
Titel «Schutzgelderpressung». Initiiert hat sie Untersuchungsrichter Adi Achermann,
der hinter den grauen Mauern des Luzerner Amtsstatthalteramtes in der neu
geschaffenen Abteilung Organisierte Kriminalität einsam gegen die mafiose
Unterwanderung kämpft. Es gibt nämlich durchaus erste Anzeichen, dass sich
das organisierte Verbrechen auch in der Innerschweiz etabliert. Etwa wenn
ein Rollkommando aus einem Lokal im Rotlichtmilieu Kleinholz macht oder wenn
Kurden bei der Polizei Schutz suchen, dann aber vor Gericht plötzlich an Gedächtnisschwund
leiden und von «edlen Spenden» für den politischen Kampf der PKK sprechen.
Vor allem aber blickt Achermann besorgt
nach Deutschland. Was dort unter Italienern, Chinesen, Russen, Jugoslawen,
Kurden und Vietnamesen abläuft, könnte auch auf die Schweiz überschwappen:
Das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) rechnet aufgrund einer Expertenbefragung
mit einem Anstieg der Organisierten Kriminalität am Kriminalitätsaufkommen
von 19 Prozent (1988) auf 37 Prozent im Jahr 2000.
Die Luzerner Strafbehörde will nun
nicht einfach tatenlos zusehen, wie die Dinge ihren Lauf nehmen und «das Phänomen
Schutzgelderpressung in den Anfängen erkennen». Denn dieses Phänomen ist in
der Branche bekannt als klassisches Einstiegsverbrechen, mit dem der Grundstein
für kriminelle Imperien gelegt wird.
Schier unüberwindlich für die Polizei
ist aber weltweit das Schweigekartell der Täter, Opfer und Mitwisser. Achermann
hofft dies zu knacken, indem er den 929 angeschriebenen Gastronomen die Möglichkeit
gibt, anonym die Umfrage zu beantworten. Vor all aber können sie auf Vorfälle
in anderen Betrieben querverweisen: Kennen Sie jemanden, von dem Schutzgeld
verlangt wurde? In welcher Branche: im Gastgewerbe, im Detail- oder Grosshandel,
im Transportgewerbe, in der Produktion oder im Dienstleistungsbereich? Unter
Androhung von Gewalt? Welcher Nationalität gehörten die Täter an? Waren sie
Teil einer Gang oder einer politischen Gruppierung? Und so weiter.
Rund 180 Anzeigen pro Jahr
Bislang gibt es weder auf Bundes-
noch auf Kantonsebene derartige systematische Erhebungen über das weite dunkle
Feld der Schutzgelderpressung. Einzig die jährliche Verbrechensstatistik über
alle in der Schweiz zur Anzeige gelangten Fälle erlaubt Rückschlüsse: 1998
wurden 357 Erpressungen mit 367 Tätern erfasst. Beim Bundesamt für Polizeiwesen
geht man davon aus, dass «die Hälfte Schutzgelderpressungen sind», wie Informationschef
Folco Galli bestätigt.
Da darf man auf das Ergebnis der Studie
im Kanton Luzern gespannt sein. Die Auswertung der Fragebogen dauert allerdings
ein wenig länger als geplant, denn Achermann hatte mit einem bescheidenen
Rücklauf von 10 bis 20 Prozent gerechnet. Nun sind 600 Fragebogen zurückgeschickt
worden – also 65 Prozent.
Damit stösst die Umfrage auch beim
Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen auf Interesse. Es hatte
vor vier Jahren 4000 Wirte in ganz Deutschland telefonisch auf türkisch, italienisch,
griechisch und deutsch über Schutzgelderpressung und Korruption befragt. Die
Kooperation war aber derart mangelhaft, dass die Untersuchung nicht als repräsentativ
gilt. Immerhin berichtete jeder sechste Betrieb detailliert über Zwangsinkasso-Vorfälle.
Und die Befragung brachte auch Erkenntnisse, die über die reine Schutzgelderpressung
hinausreicht: Jeder Fünfte beklagte sich über die Bestechlichkeit der Behörden.
Auf Rang eins fungierten dabei die Gewerbeaufsichtsbehörden, an zweiter Stelle
die Baubehörde und an dritter die Polizei.
Korrupte Beamte
Von der Korrumpierbarkeit des Öffentlichen
Dienstes berichtet auch Harald Chybiak, Inspektionsleiter vom LKA 2011 in
Berlin. Polizeibeamte gehörten gar zur 200 bis 250 Personen starken «Fussball-Hooligans»-Szene
- «ein hochkriminelles Volk», wie sich Chybiak ausdrückt, «das in allen Bereichen
tätig ist und sich den Ostteil der Stadt unter den Nagel gerissen hat». Westberlin
andererseits werde von etwa 10 arabischen Grosssippen und einigen Türken beherrscht.
Interessant für die Schweiz dürften dabei die Erkenntnisse über neue Formen
der klassischen Schutzgelderpressung sein: Verschiedene Gruppierungen bieten
in der deutschen Hauptstadt Türsteher zum Schutz von Nachtclubs, Discos und
Läden an. Dann sorgen sie gezielt für Zoff. Solange, bis der Geschäftsinhaber
mehr und mehr für die offiziell als Sicherheitsfirma – mit Briefkopf und Gewerbeschein
– auftretenden Erpresser zahlt.
Und welche Rezepte kennt der nördliche
Nachbar im Kampf gegen mafiose Strukturen? Die Polizei soll mit Ausländern
verstärkt werden, man versucht V-Leute in die Clans einzuschleusen (was immer
weniger gelingt), und ein Zeugenschutzprogramm wie in den USA wird auf gesetzlicher
Ebene gefordert. München hat ein Telefon eingerichtet, über das sich Opfer
anonym melden können. Auch wurden schon Stammtische für Wirte initiiert, an
denen sie sich austauschen. Derweil tönt es in Berlin ein wenig desillusioniert,
respektive realistisch: Die Polizei versucht die Mitglieder der Clans über
Betäubungsmitteldelikte einzubuchten. Alles andere sei aus Mangel an Beweisen,
wegen des kollektiven Schweigens der Opfer chancenlos. Und nur selten wandelt
sich einer zum «pentito», zum Reuigen.
Vier dubiose Typen
Untersuchungsrichter Adi Achermann
will nun erst einmal Erfahrungen sammeln. Möglich, dass er mit seinem
frühen Eingreifen der Anfänge wehren kann. Diego Marty, der Luzerner Spielsalonbesitzer,
hat da allerdings Zweifel: Nachdem er die beiden mutmasslichen Schutzgelderpresser
bei der Polizei auf Fahndungsfotos identifiziert hatte, kehrte bei ihm
erst einmal Ruhe ein. Vor einigen Tagen standen nun aber wieder «so dubiose
Typen» in seinem Lokal. Diesmal waren es vier. Und jetzt ist ihm doch
auch ein wenig gschmuech zumute.
*Name geändert
Juli 1999
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