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Seldwyla:
Wenn der Nachbar eine Katze wäre
VON WINA BILLERS
Um
10.44 Uhr geht der Alarm bei der Feuerwehr ein. Zu dieser Zeit steht die Löschmannschaft
bereits voll im Einsatz: Sie birgt aus einem Dachkennel einen Schlüsselbund,
den ein Mansardenbewohner jemandem auf der Strasse zuwerfen wollte. Damit
hatte für die Feuerwehr, wie sie später analysieren wird, der Tag
schon irgendwie komisch begonnen...
Auch um 11 Uhr kämpft die Kompanie
nicht gegen lodernde Flammen, sondern mit zwei Katzen. Daisy und Micky hatten
an diesem Sonntag zum ersten Mal Ausgang, seit ihre Besitzer in die Stadt
gezogen waren – in eine Maisonettewohnung mitten in Luzern. Leichtfüssig
waren die Büsi aufs Dach gesprungen, doch ihre kleinen Krallen fanden
auf den mit feinem Eis überzogenen Ziegeln keinen Halt. Hilflos rutschten
die beiden Miezen hinab in den Schneefang. Ihre Not war von Nachbarn bemerkt
worden, die sofort die Feuerwehr auf den Plan riefen.
Katzen ausgesetzt
Minuten später steigt ein Feuerwehrmann
die Leiter empor, beugt sich mit ausgebreiteten Armen über Daisy. Die
gelben Katzenaugen werden weit vor Schreck, ein dunkles Grollen steigt tief
aus ihrer Kehle. Doch mutig packt der vermeintliche Helfer das Tier am Kragen
und steckt es in ein Körbchen. Unten auf der Strasse haben sich im Nu
Schaulustige angesammelt. Und die Picketttruppe hätte sich jetzt nach
solch publicityträchtigem Einsatz bejubeln lassen können, wenn da
nicht das Unglaubliche geschehen wäre: In der Passage im gleichen Häuserkomplex
geht der Feueralarm los. Um sich nun nicht im eigenen Synergiegespinst zu
verheddern, lässt der Kommandant die eingefangene Katze aufs Polizeirevier
verbringen. Dort weiss der für das Wohl von Enten, Tauben und Schwänen
verantwortliche Wasenmeister mit dem Büsi nichts anzufangen. Er erlässt
deshalb den Befehl, das Tier dort auszusetzen, wo es gerettet worden war –
es finde dann schon nach Hause. Und weil die Feuerwehr immer mal wieder eine
Katze von einem Baum evakuieren muss, diese dann gleich vor Ort laufen lässt,
wird Daisy mitten in der Altstadt auf der Strasse freigelassen – Bäume
und Häuser, beide sind sie schliesslich hoch. In Panik schiesst die Katze
die nächste Gasse hinauf. Weg war sie.
Auf dem Brandplatz ist inzwischen
Ruhe eingekehrt, denn es gab gar keine Feuersbrunst. Vielmehr hatte die Kompanie
den Alarm selbst ausgelöst: Die Abgase ihres Löschfahrzeuges waren
in die Passage gedrungen. Micky, der Kater, wird jetzt ebenfalls vom Dach
geholt und ausgesetzt.
Kirchenmäuse
Von alle dem bekommen die Katzenbesitzer
nichts mit. Erst am nächsten Tag erfahren sie von der Polizei nach und
nach die volle Wahrheit. Zuerst Fassungslosigkeit ob des ungeschickten Vorgehens
beim organisierten Versuch, zwei Katzen zu retten. Dann rennt das Ehepaar
in wilder Verzweiflung und «Büsi» rufend durch die Strassen, überzieht
die ganze Region mit Vermisst-Plakaten, setzt einen Finderlohn aus - und findet
Micky bei einem Gotteshaus. Ein logischer Fundort, allein schon wegen der
Kirchenmäuse. Also wird die Orgel nach dem zweiten Tier durchsucht, nach
einem - nicht existierenden - Kirchenkeller gefahndet, von der Kanzel aus
nach Daisy Ausschau gehalten. Von dem Büsi keine Spur.
Längst hat sich die Nachricht
von der missglückten Rettung herumgesprochen. Die halbe Stadt scheint
sich an der Suche zu beteiligen: Aufs Geratewohl dringen wildfremde Menschen
in Gärten ein, rufen auf der Strasse «Daisy, bus, bus, bus», leuchten
mit Taschenlampen in Keller und Grünanlagen. Es knackt überall in
den Büschen. Dutzende von Katzen werden gefunden: graue, schwarze, getigerte,
aber keine sieht der dreifarbigen Daisy auch nur im Entferntesten ähnlich.
Derweil kreisen schwarze Vögel über dem Boden - Geier?
Katzen als Weihnachtsbraten
Kalter Wind zieht übers Land
und bald schneit es. Fortan werden sämtliche Katzenspuren im Schnee verfolgt.
«Wie wär’s mit Spürhunden?», schlägt eine Passantin vor. Alle
stellen sie Mutmassungen an: Katzen würden sich zum Sterben zurückziehen,
räumt jemand ein. Und 12 Jahre sei ja für ein Tier ein schönes
Alter. Andere wissen mit Bestimmtheit, dass das Kätzchen zur alten Wohnung
zurückgelaufen sei. Ein weiterer Fachmann, sichtlich von Bier beflügelt,
rechnet aus, dass noch nicht einmal theoretisch eine Chance bestehe, Daisy
zu finden, weil sich das Objekt bewege. Leider nicht mehr möglich, kontert
die erste Passantin, «drüben beim Italiener gibt’s coniglio tricolore».
Nun geht's nicht mehr um Katzen, sondern um Ausländer: Besonders an Weihnachten
würden immer wieder Büsi verschwinden, aber die Diebe seien längst
keine Italiener mehr, sondern... Ob die Leute wohl auch dann noch nach Daisy
suchen würden, wenn sie jugoslawischer Herkunft wäre?
Die Feuerwehr ist zerknirscht. Allfällige
Tierarztkosten und eine Extraportion Futter würde sie gern übernehmen
und lädt die Besitzer von Daisy zur nächsten Agathafeier eingeladen.
Überdies wird das Dispositiv für die Rettung von Dach-Katzen geändert:
Sie werden ab sofort als Stubenkätzchen eingestuft, die in Polizeigewahrsam
genommen werden müssen. Also keine Resozialisierung mehr durch Aussetzen
auf freier Strasse.
Katzenrettungsaktionen durch die Feuerwehr
kosten wenigstens nichts. Zwar verrechnet sie technische Einsätze, und
weil eine Katze nach Gesetz eine Sache ist, wäre ihre Bergung theoretisch
ein technischer Vorgang. In der Praxis geht man in Luzern aber davon aus,
dass die Feuerwehr dafür da ist, Menschen in Not zu helfen. Und ein Mensch,
der sich um sein Tier sorgt, befindet sich in Not.
Ende gut, alles gut: Daisy wurde nach
einer Woche von der Guuggenmusig Musegg-Geister eingeschlossen und aschgrau
in jenem Schulhaus-Keller gefunden, wo die Fasnächtler ihre Gwändli,
Grinde und Instrumente lagern. Nun sitzt die Mieze bereits wieder daheim
auf dem Dach, blinzelt in die Wintersonne – und wenn nicht alles täuscht,
denkt sie: «Es stünde besser um die Menschheit, wenn der Nachbar
eine Katze wäre.»
Februar 1999
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