Zur Frontpage 

1 Schritt zurück Inhalt Inland

 Steuern:
Jagd auf Steuerzahler

 

VON VERA BUELLER

Alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit passiert in der Schwyzer Gemeinde Freienbach Eigenartiges: Neuzuzüger lassen sich auf der grünen Wiese, auf Baustellen, in Scheunen, Industriegebäuden, Restaurants oder Hotels nieder. Auch ist es schon vorgekommen, dass gleich mehrere Familien plötzlich in ein- und derselben Einzimmerwohnung hausten.

Herrscht in Freienbach eine derart drastische Wohnungsnot? Lukas Meier von der Steuerverwaltung lacht: Nein, die Leute wollten nur am 31. Dezember eines Jahres in der Steueroase Freienbach angemeldet sein, um dem Staat weniger Geld abliefern zu müssen. «Aber dazu bieten wir nicht Hand – egal ob es sich um einen Millionär oder um den Otto Normalverbraucher handelt. Wir klären den Sachverhalt und melden den Vorfall je nachdem der Zuzugsgemeinde.» Das Credo der Freienbacher Behörde ist klar: Sie will anderen Gemeinden keine Einnahmen vorenthalten. Und jeder soll dort Steuern zahlen, wo er lebt.

Doch just die Frage, wo sich der Lebensmittelpunkt einer Person befindet, ist umstritten. Vor allem in den grösseren Städten, wo Tausende von so genannten Wochenaufenthalter leben – davon soll es in der ganzen Schweiz etwa 100'000 geben. Ein Wochenaufenthalter lebt beispielsweise in Martigny, arbeitet aber in Zürich, wo er während der Woche wohnt. Üblicherweise muss er seine Steuern in der Heimatgemeinde zahlen. Dabei kann er die Kosten für das auswärtige Zimmer, eine Hauptmahlzeit pro Tag und die Wochenendfahrten zwischen Wohn- und Arbeitsort in Abzug bringen. Das macht schnell einmal 10'000 bis 15'000 Franken pro Jahr aus – abgesehen vom niedrigeren Steuerfuss, den manch eine Landgemeinde hat.

Verdacht auf Scheindomizil

Immer mehr Städte unterstellen nun den Wochenaufhaltern, sie unterhielten in der Ferne nur ein Scheindomizil und müssten fortan ihren Obolus bei ihnen abliefern – wodurch die Steuerabzüge entfallen . Dabei berufen sie sich auf ein Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 1998, wonach sich der Lebensmittelpunkt eines Wochenaufenthalters ohne enge Familienbindung am Arbeitsort befinde. Der Entscheid erging gegen einen 42jährigen ledigen Chemiker aus Zürich, der seit drei Jahren in Basel arbeitete und dort eine Wohnung unterhielt. Daraus entwickelten die grösseren Städte gleich ein neues Standard-Modell, das da lautet «ledig, über 30 Jahre alt, länger als 5 Jahre registriert = Ablehnung des Wochenaufenthalter-Status». Offiziell heisst es allerdings, dass jeder Fall einzeln begutachtet werde: In Zürich wären es pro Jahr rund 750, in St. Gallen gegen 450 und in Bern gar bis zu 3000 Fälle. Mehrere Millionen Franken fliessen so in die strapazierten Stadtkassen. Allein in Bern sind es pro Jahr zwei Millionen Franken Mehreinnahmen.

In der Praxis legen die Städte allerdings unterschiedlich strenge Massstäbe an: St. Gallen will nicht polarisieren, die Bündner halten sich bei den Kontrollen ebenfalls zurück, Basel, Zürich und Aarau sind zu einer «konsequenten Bewirtschaftung der Wochenaufenthalter übergegangen» – will heissen, es wird streng ausgemustert und gar geschnüffelt. Etwa als ein Wo chenaufenthalter in Aarau behauptet hatte, dort keine gesellschaftlichen Kontakte zu pflegen. «Per Zufall», sagt Roland Rüede, Vorsteher des Gemeindesteueramtes, stiessen die Behörden dann aber auf einen Mann in Aarau, der vom umstrittenen Wochenaufenthalter ein Darlehen erhalten hatte. Also, schlussfolgerte die Steuerbehörde, bestünden doch persönliche Kontakte.

Forsche Gangart der Berner

Derweil plädiert der Berner Steuerverwalter Rudolf Oester für eine einheitliche, landesweit geltende Lösung: «Ich wäre dafür, dass nach zwei Jahren der Wochenaufenthaltstatus nicht mehr gilt.» Bern ist denn auch bekannt für eine äusserst forsche Gangart. Selbst der Bundesrat hielt in einer Stellungnahme zu einem parlamentarischem Vorstoss das Wohnsitzrecht des Bundespersonal betreffend fest: « Auf Anfrage hat die Steuerverwaltung des Kantons Bern zwar schriftlich erklärt, sich immer auf die differenzierte Bundesgerichtspraxis abgestützt zu haben. Anderseits sind aber auch Fälle bekannt geworden, in denen sich die Betroffenen bis vor Bundesgericht gegen eine Ausweitung der bisherigen Praxis zur Wehr setzen mussten.»

Der 51jährige Tessiner Enrico C. kann davon ein Lied singen. Kaum hatte er sich als Wochenaufenthalter in Bern angemeldet, musste er schriftlich «äusserst intime Fragen», wie er fand, über seine persönlichen Wohn- und Lebensverhältnisse beantworten. Widerwillig, aber wahrheitsgetreu gab er an, dass er während der Woche in einer möblierten Einzimmerwohnung in der Berner Altstadt lebe, im Tessin zusammen mit seiner Freundin ein Eigenheim besitze und jedes Wochenende dorthin zurück kehre.

Masochist mit Freunde, Katze, Haus und Garten

Die Steuerbehörde folgerte daraus, dass Enrico C. sein Leben am Arbeitsort verbringen, was dieser zuerst belustigt zur Kenntnis nahm: «Nur wenn man mir unterstellt, ein Masochist zu sein, kann man annehmen, mein Lebensmittelpunkt befinde sich in Bern», konterte er per E-Mail. Die zuständigen Beamten fanden dies gar nicht lustig und verfügten die Verlegung des steuerrechtlichen Wohnsitzes in die Bundeshauptstadt. Nun musste der Tessiner Büroangestellte beweisen, dass er im Ticino am Vereinsleben teilnimmt, der Dorfpfarrer zu seinen engsten Freunden gehört und Enrico C. nicht nur von seiner Freundin, sondern auch von seiner Katze jedes Wochenende sehnlichst erwartet wird.

Seine Heimatgemeinde lieferte dazu noch ein Bestätigungsschreiben und die kantonale Steuerbehörde munitionierte ihn – erfolgreich – mit Argumenten gegen den Entscheid. Denn nur der Steuerpflichtige selbst kann gegen eine Steuersitz-Verfügung rekurrieren. Dass die Heimatbehörden ihm dabei aber so gut es geht helfen, ist für Gianfranco Franzi vom Tessiner Finanz- und Wirtschaftsdepartement klar: «Wir haben täglich ein paar solche Fälle. Und für uns steht fest, dass die kulturelle und persönliche Beziehung dieser Leute zum Tessin stärker ist.» Viele Arbeitende seien einfach nur gezwungen, in der Deutschschweiz eine Stelle zu suchen, weil es im Tessin zu wenige habe. «Viele kleine Dörfer würden nun aber verarmen, wenn die grossen Städte im Norden ihnen die Steuereinnahmen entziehen». Das lasse sich auch nicht durch den Finanzausgleich wett machen. Zumal die Deutschschweizer nicht darauf drängten, auch den zivilrechtlichen Wohnsitz, sondern nur den steuerrechtlichen zum Arbeitsort zu verlegen. Die Heimatgemeinden seien jedoch für die Ausbildung der Kinder aufgekommen, leisteten Beiträge im Sozialfall und an die Pflege von Senioren, die ausserhalb des Kantons erwerbstätig waren. Ausserdem würde die Bindung zum Heimatdorf abreissen, wenn man die Leute quasi zwangsumsiedle.

Schleichende Abwanderung

Auch Anton Graf, Gemeindeschreiber von Lauterbrunnen, bekommt dies zu spüren: «Wir haben klar die schlechteren Karten, denn die Rahmenbedingungen sprechen gegen uns. Es mangelt an genügend qualifizierten Arbeitsplätzen und die topografische Lage ist ungünstig. Wer in Bern arbeitet, braucht mit dem Zug mindestens anderthalb Stunden.» Die Abwanderung sei in Lauterbrunnen schleichend. «Und vor allem kontinuierlich: Ein Ende ist nicht abzusehen.»

Um die Entvölkerung ganzer Berggemeinden abzufedern, hat der Kanton Graubünden ein interkommunales Abkommen getroffen: Das Erwerbseinkommen kommt je zur Hälfte der Wohn- und der Arbeitsgemeinde zu.

Das Prinzip der Steuerteilung gibt es allerdings auch in der übrigen Schweiz. Nur wird es ausschliesslich bei Kaderleuten angewendet. Leitende Angestellte mit Wochenaufhalterstatus, denen eine «strategische Führungsfunktion» zu kommt, bleiben nämlich vor langwierigen Abklärungen verschont. Und selbstverständlich können sie ihre Wohn-Unkosten samt Spesen bei den Steuern abziehen. So mussten Leute wie Novartis-Chef Daniel Vasella oder Ex-Hoffmann-La Roche-Konzernleiter Fritz Gerber ebenso wenig Fragen über ihren Lebensmittelpunkt beantworten wie unsere Bundesräte. Kaspar Villiger zahlte sowohl in Muri bei Bern wie im Luzernischen Pfeffikon Steuern. Auch bei Pascal Couchepin, der allein in einer Sechs-Zimmer-Wohnung im Von-Wattenwyl-Haus – dem offiziellen Gästehaus der Landesregierung – in der Berner Altstadt wohnt, käme niemand auf die Idee zu behaupten, sein Lebensmittelpunkt befinde sich am Arbeitsort. Derweil hat sich Bundesrätin Micheline Calmy-Rey dem Berner Fiskus ganz entzogen: Sie wohnt – wie einst auch Otto Stich – im Hotel. Als sie noch Genfer Finanzministerin war, wollte sie gar eine Steuer für Pendler erheben. Jene, die in Genf arbeiteten, sollten dort auch steuern, argumentierte sie.

Februar 2004

top

 

Der Lebensmittelpunkt zählt

Der Steuersitz ist nicht frei wählbar. Entscheidend ist der so genannte Lebensmittelpunkt. Für Wochenaufenthalter gilt folgendes zu beachten:

  • Verheiratete: Wer regelmässig zu seiner Familie zurück kehrt, wird in der Regel am Ort der Familie besteuert.
  • Ledige Personen: Tendenziell ist bei Ledigen der Arbeitsort auch der Lebensmittelpunkt. Zwar werden auch Eltern und Geschwister zur Familie gezählt, aber ledige Personen müssen noch zusätzliche Bindungen an ihren Heimatort geltend machen können.
  • Beweismittel: Bahnbillette, die eine regelmässige Rückkehr belegen, sowie Vereinszugehörigkeit oder Bancomatauszüge, die über die jeweiligen Einkaufsorte Auskunft geben.
  • Wohnform: Wer am Arbeitsort in einer grossen Wohnung oder im Konkubinat lebt, wird eher Mühe haben zu beweisen, dass sein Lebensmittelpunkt anderswo ist.

 

 

top