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 Politik
«In einer Zweiklassengesellschaft gibt es keine Mitte mehr»

 

VON VERA BUELLER

 Der pensionierte SP-Bundesrat sitzt auf der Restaurantterrasse über Dornach, und ein heftiger Wind fegt einen Sonnenschirm nach dem anderen zu Boden. Aufgescheuchte Gäste und Kellner rennen umher. Nur Otto Stich lehnt sich genüsslich zurück, zieht an seiner Pfeife und konzentriert sich auf sein Gegenüber.

Der stur geltende Politikers totzt allen Widrigkeiten und Gegnern. Dazu zählt heute immer wieder auch die Landesregierung. "Wenn man in einer Demokratie lebt, muss man seine Meinung äussern", begründet der Pensionär seine Aufmüpfigkeit. Die Demokratie gehöre eben nicht allein dem Bundesrat, "sondern dem ganzen Volk" ? also auch ihm, dem normalen Bürger Otto Stich. Punktum. Fast sieht es aber so aus, als ob sich Stich seit seinem Rücktritt von 1995 mit besonderer Lust zu Wort meldet. Sei es zu Sparpaketen, die seine ehemaligen Kollegen falsch schnürten, sei es zur Gentechnologie, die den Interessen einer biologischen Landwirtschaft entgegen liefen, oder zur Politik beim Service publique.

Gegenwind sei nun mal Teil des Jobs eines Politikers, davon ist Stich überzeugt. Später liefert er dazu allerdings noch eine Präzisierung: "Wenn man als Bundesrat ständig geplagt wird, muss man sich auch mal fragen, warum das so ist..."

Warum ein Bundesrat keinen Bodyguard brauchttop

Dieser Frage werden sich in naher Zukunft die Bundesräte Kaspar Villiger und Moritz Leuenberger stellen müssen ? sobald die Abstimmungen über eine Kapitalgewinnsteuer und das Elektrizitätsmarktgesetz anstehen. Dann werden sie von Otto Stich öffentlich Prügel beziehen. Dabei überschätzt der Ruheständler die Bedeutung eines Bundesrates keineswegs: "Wissen Sie, warum ein Schweizer Bundesrat keinen Bodyguard braucht? Weil hier jeder weiss, dass sich nach einem Attentat an der Politik des Landes nichts ändern würde."

Dass der ehemalige Finanzminister für die Einführung einer Kapitalgewinnsteuer eintritt, versteht sich fast schon von selbst: "Alle Einkommen müssen versteuert werden. Unsere Demokratie muss einfach gerechter werden". Dazu gehöre allerdings auch ? sagt Stich unnachgiebig ?, "dass Steuerbetrug ebenso hart bestraft wird wie jeder andere Betrug".

So gelassen sich der Ex-Bundesrat auch gibt, er kann seinen Zorn darüber nicht verhehlen, dass "der kleine Mann" an die Macht der Märkte verraten worden sei. Etwa im Zusammenhang mit dem Service publique. Er holt weit aus: "Ein gut funktionierender öffentlicher Dienst ist Zeichen für eine gut funktionierende Gesellschaft und einen gut funktionierenden Staat. Bis heute hatten wir das." Bahn, Telefon, Post, Wasser- und Energieversorgung hätten gut funktioniert. Doch nun werde alles den Gesetzen des Marktes ausgeliefert, abgebaut, ganz an Private verscherbelt oder zumindest partiell ausgelagert. Damit drifte die Gesellschaft immer mehr auseinander ? in reich und arm. Stich belegt seine Behauptung mit einem, wie er selbst sagt, banalen Beispiel: Wenn man in den Bahnhöfen die WC-Anlagen privaten Unternehmern übergebe und dann die WCs nur mehr für einen Obolus von 1,50 Franken benützt werden könnten, sei dies zwar betriebswirtschaftlich nachvollziehbar, aber sozial ungerecht. Denn nicht jeder und nicht jede könne sich die 1,50 Franken für den Toilettengang leisten.

Im Abstimmungskampf gegen den Bundesrattop

Man dürfe die Menschen nicht einfach den Gesetzen der Marktwirtschaft überlassen, nicht bei Dingen, die lebensnotwendig seien, nicht bei den "natürlichen Monopolen" damit findet Otto Stich den Bogen zum neuen Elektrizitätsmarktgesetz: Die Zuleitungen, durch die der Strom vom Prozenten zum Konsumenten fliesse, bildeten ein natürliches Monopol; Stich kritisiert, dass diese Leitungen in die Hände Privater übergeben werden sollten. Diese könnten die Preise beliebig festlegen, Strom gegebenenfalls abstellen und den Unterhalt vernachlässigen. Daraus ergäben sich Verhältnisse wie heute in Kalifornien, wo die Stromversorgung nicht mehr garantiert sei. Private arbeiteten nun mal pro domo an einer Maximierung der Gewinne.

Gewiss, im umstrittenen Elektrizitätsmarkgesetz stehe, dass Monopol-Gewinne verhindert würden, räumt Stich ein. Aber: "Das kann man leicht hinein schreiben, solange man nicht sagt, was damit genau gemeint ist und wie man das handhaben will." Was, wenn die Stromkonzerne fusionierten und dereinst Teil eines internationalen Konglomerats würden? Dann habe eine Schweizer Behörde gar nichts mehr zu sagen. Und wie wolle man die teuren erneuerbare Energien fördern? Auch fragt sich der ehemalige "Sparonkel der Nation" mit Blick auf die AKWs, ob "die Privaten" überhaupt Willens und in der Lage seien, dereinst die Entsorgung des Atommülls allein zu berappen. Oder ob nicht auch hier der Staat nach dem Motto "Die Gewinne den Privaten, die Kosten der Allgemeinheit" zur Kasse gebeten werde.

Bund stiehlt sich aus der Verantwortungtop

Otto Stich ist zur vollen Form aufgelaufen. Er warnt vor einem Rückfall in den Feudalismus. Heute drohe die Verkapitalisierung der Macht; Geld und die Märkte regierten zunehmend die Welt. Stich wird nicht müde, vor der daraus resultierenden Zweiklassengesellschaft zu warnen und für die Werte der Demokratie zu plädieren: Der Bund dürfe sich nicht unter dem Mäntelchen von Aktiengesellschaften aus der Verantwortung stehlen. Es gehe nicht an, dass er alles mit der Begründung rechtfertige, "der Markt verlangt es". Wahr sei ja, dass man aus betriebswirtschaftlichen Gründen Poststellen schliessen müsse. "Der Bund steht jedoch in der Pflicht, zu entscheiden, ob er als Aktionär hohe Renditen oder ob er Arbeitsplätze sichern will." Was zählten Zahlen, wenn es um Ängste geht? Was passiere mit den Angestellten, wenn sie ohne Arbeit auf der Strasse stehen? Die Spätfolgen, die eine Rendite-orientierte Politik produziere, sind für den Politprofi Stich absehbar: "Die Entlassenen werden vom Staat enttäuscht und deshalb für rechtsradikale Parolen empfänglich sein."

Seit seiner Jugend macht der 74jährige Politik; dies habe die Nähe zu Deutschland mit sich gebracht ? keine zehn Kilometer war das Tausendjährige Reich entfernt. Die Machtergreifung Hitlers, ist Stich sicher, sei nur möglich gewesen, weil sich die Leute zu wenig engagiert hätten. In der Politikverdrossenheit sieht er auch heute eine Gefahr. Diese schreibt er "der Wirtschaft" zu: Leistungslohn, harte Anforderungen, Mangel an Freizeit ? und die Gefahr, sich die Karriere zu vermasseln, wenn man politisch Farbe bekenne. So hatte Otto Stichs Sohn beispielsweise keine Chance, bei einer Grossbank angestellt zu werden: "Ein Stich komme ihnen nicht ins Haus, lautete die Begründung."

Bevor die SP mit den Freisinnigen fusioniert

Nun haben wirtschaftsfreundliche Kräfte in der SP das Gurtenmanifest lanciert. Was hält der Sozialdemokrat von der Bewegung der Sozialdemokratie zur Mitte hin? Erst stopft Stich seine Pfeife und schaut sich dabei, lange sinnend, zu. Dann gibt er schlitzohrig zu bedenken: "In einer Zweiklassengesellschaft gibt es keine Mitte mehr!" Und nach einer weiteren Pause erzählt er von einer Begegnung, als er zum letzten SP-Fraktionsausflug erschienen war: "Was, Du kommst auch?", zeigte sich eine Genossin überrascht. Darauf Otto Stich: "Ja, ich dachte, ich komme noch mal, bevor die SP mit den Freisinnigen fusioniert."top

August 2001