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 Bundesratswahlen:
Die Zukunft der Schweiz liegt im Süden

 

VON VERA BUELLER

 Wie ein Mann steht die Deputation der Republik und des Kantons Tessin in den eidgenössischen Räten hinter Patrizia Pesenti: «Die Chance muss wahrgenommen werden», sagt CVP-Nationalrat Meinrado Robbiani. «Als Tessiner werden wir sie wählen», verspricht Lega-Präsident Giuliano Bignasca und für FDP-Nationalrat Fabio Abate ist die Kandidatur «eine gute Sache für die Südschweiz». Ja selbst SP-Ideologe Franco Cavalli, bis vor kurzem noch Pesenti-Kritiker, gibt sich überzeugt, dass die Staatsrätin «sicher die richtige Person ist, wenn die SP das Innendepartement behalten will».

Sie alle gehen davon aus – oder erwecken zumindest den Anschein –, dass sich die Tessiner nichts sehnlicher wünschen, als im Bundesrat vertreten zu sein. Wer sich allerdings direkt bei der Bevölkerung zwischen Airolo und Chiasso erkundigt, ob sie denn eine Vertretung in der Landesregierung vermissten, erhält überraschende Antworten. «Mit oder ohne Tessiner Bundesrat, wir bleiben ‚la cenerentola’, das vernachlässigte Stiefkind der Schweiz», meint Claudio, Grafikstudent in Lugano. Und in einer Bar in Mendrisio fragt sich Frührentner Paolo Bertossa: «Was haben die Bundesräte Cotti, Celio, Lepori und Motta dem Tessin gebracht? Nichts».

Verkehrsprobleme statt «Träume und Traktanen»

Das Desinteresse vieler Tessinerinnen und Tessiner an einer Vertretung im Bundesrat ist die Folge einer als Geringschätzung empfundene Gleichgültigkeit des Bundes gegenüber den Anliegen des italienisch sprechenden Kantons. An dieser tief sitzenden Enttäuschung ändern auch folkloristisch überladene Sondersessionen in Lugano oder die Übersetzung von Moritz Leuenbergers «Träume und Traktanden» ins Italienische («Tra sogni e strategie») wenig. Das Tessin bräuchte nicht Leuenbergers Weisheiten, sondern zum Beispiel die von ihm grossmundig versprochene Lösung des Verkehrsproblems in Bissone. top

Wie es zu bewerkstelligen ist, dass das Tessin in Bern besser gehört wird, darüber gehen die Meinungen diametral auseinander. Die eine Schule, repräsentiert durch die Leghisten Flavio Maspoli und Giuliano Bignasca, propagieren eine Politik der lauten Worte und des auf den Tisch Hauens propagieren (Bignascas Wahl-Slogan: «Bern ich komme»). Auch der CVP-Ständerat Filippo Lombardi sagte auf den Wahlplakaten mit durchdringendem Blick: «Gebt mir mehr Stimme … In Bern werden sie uns hören». Eine andere Schule, die etwa FDP-Nationalrat Fulvio Pelli vertritt, glaubt, dass nur gute Argumente zum Erfolg führen. Pelli: «Wenn Lombardi in Bern so auftritt, wie er sich auf seinen Plakaten gibt, stellen sie ihn dort in eine Ecke und keiner hört ihm zu.»

Die Distanz der Tessiner zu den Aktivitäten nördlich des Gotthards hat sich nicht zuletzt bei der Expo 02 manifestiert: Die Landesausstellung wurde regelrecht boykottiert. Nur gerade 1,4 Prozent der Tessiner haben ein Expo-Ticket gekauft. In anderen Kantonen beträgt die Quote weit über zehn Prozent. Das ist nicht allein mit den langen Anfahrtswegen an den Bieler-, Murten- und Neuenburgersee zu erklären. Aber vielleicht mit der Geschichte und Geographie des Kantons, der bis zur französischen Revolution Untertanengebiet der Eidgenossenschaft war. Das Tessin ist ein Labyrinth von Tälern, in dem sich nur schwer das Bewusstsein einer politischen Einheit entwickeln konnte. Das zeigt sich bis heute in der starken Stellung der vielen Gemeinden. Die Landvögte von nördlich der Alpen waren alles andere als an Zusammenhalt und langfristiger Förderung des Tessins interessiert. Die übergeordneten politischen und kirchlichen Entscheidungszentren befanden sich ausserhalb der Region. Als das Tessin seine Selbständigkeit erhielt und zum Kanton wurde, fehlten ihm alle Strukturen und Traditionen für ein staatliches Gebilde. Und der neue Staat war arm wie eine Kirchenmaus.top

Politisches Labor

Trotzdem mussten die Ticinesi die alten Vogteien der Eidgenossen zu einer Einheit zusammenfügen, mussten ein Strassennetz in die Täler und das Schulwesen ausbauen. Parallel dazu entwickelten sie ihr politisches Selbstverständnis und Selbstbewusstsein. So gab sich das Tessin als erster Kanton im 19. Jahrhundert eine liberale, auf den Volksrechten aufbauende Verfassung. Und früher als die meisten Deutschschweizerinnen erhielten die Tessinerinnen 1969 das Stimm- und Wahlrecht. Mit anderen Worten: Der Kanton Tessin wurde zu einem politischen Labor, in dem bis heute – mal mehr mal weniger erfolgreich – politisch experimentiert wird. Doch immer mussten sie sich gegen Einmischungen von aussen, vom Süden wie vom Norden, wehren.

Besonders nachhaltig hat die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das Tessin geprägt: Zwei Weltkriege und eine lange Periode des Faschismus verschlechterten das Verhältnis zum grossen Nachbarn Italien. Anders als die Deutschschweiz, die die neue Beziehung zu Nazi-Deutschland nicht als Trennung empfand, musste sich das Tessin aus dem wirtschaftlichen und kulturellen italienischen Zusammenhang lösen und sich der deutschsprachigen Schweiz ausliefern. Diese Zäsur wirkt bis heute nach und äussert sich in so seltsamen Vorkommnissen wie den spontanen Volksfesten auf Tessiner Strassen und Plätzen, wenn die italienische Fussballnationalmannschaft an den Weltmeisterschaften ein Spiel verliert.

Kolonisierung des Tessins durch Deutschsprachige

Nach dem Zweiten Weltkrieg richtete sich das Tessin noch stärker nach Norden aus, beziehungsweise wurde vom Norden als Investitionsgebiet mit stark spekulativem Charakter entdeckt. Während die Deutschschweizer Kantone in den Jahren der Hochkonjunktur vorwiegend mit dem Problem der Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte konfrontiert wurden, war es im Tessin der Zustrom von Deutschschweizer Rentnern, Immobilienkäufern, Hoteliers, Gewerblern und Investoren, die den Kanton sozial und kulturell veränderten. Folge dieser «Kolonisierung» ist beispielsweise zu einer starken Überalterung der Gesellschaft geführt. Und heute geben zehn Prozent der Bevölkerung deutsch als ihre Muttersprache an und rund 1,5 Millionen Deutschsprachige reisen jedes Jahr für kürzere oder längere Zeit ins Tessin.top

Bis in die 80er Jahre wurde diese Entwicklung von den Einheimnischen wie ein Naturereignis hingenommen. Man versuchte von den «Züchin» (zu deutsch Kürbis), wie die Deutschschweizer abschätzig genannt werden, wirtschaftlich zu profitieren, erliess läppische Vorschriften zum Schutz der in Wirklichkeit nie gefährdeten Italianità und blieb im übrigen unter sich.

Obwohl die Erfolge der Protestbewegung Lega und oder seit jüngerer Zeit auch der SVP anderes vermuten lassen, war die Integrationspolitik des Kantons recht vielversprechend. Für die Rechtsparteien war es in den Jahren der Arbeitslosigkeit und der Massenentlastungen allerdings ein Leichtes mit flammenden Worten die Ängste der Bevölkerung zu schüren. Denn unbestritten ist, dass das Tessin nicht mehr nur die Sonnenstube für die Hugentoblers und Künzlis ist, sondern eine neue Generation heranwächst, die aus dem Süden zugewandert ist.

Schlucken, was Brüssel vorsetzt ?

Die Angst vieler Einheimischer vor den Fremden manifestiert sich immer wieder im negativen Abstimmungsverhalten bei europapolitischen Vorlagen. Zumal sich das Tessin von einer Öffnung zu Europa nicht viel verspricht: Da ist das unmittelbare Anschauungsbeispiel, das zentralistische Italien, wo die einzelnen Regionen wie etwa die Lombardei wenig zu sagen haben. Und während die europhilen Westschweizer durch die Annäherung an Europa eine Relativierung ihrer Minderheitssituation innerhalb der Schweiz und mehr Gewicht mit Hilfe frankophoner Länder erwarten, befürchten die Tessiner das Gegenteil: eine weitere Marginalisierung innerhalb der kleinen Schweiz im grossen Europa. Wie das aussehen könnte, erfahren sie heute schon (wegen der bilateralen Verträge) beim grenzüberschreitenden Güterverkehr. Hier müssen sie schlucken, was ihnen Brüssel und Bern vorsetzen.

In den vergangenen 20 Jahren hat das Tessin aber auch an Selbstvertrauen zurückgewonnen. Das Solidaritätsprinzip des aktuellen Schweizerischen Krankenversicherungsgesetzes hat Tessiner Wurzeln, im Schulwesen und bei der Kleinkinderbetreuung, bei der Pflege von Alzheimer-Kranken, im Sozialwesen, mit den Ergänzungsleistungen für Familien wurden neue Modelle entwickelt, die in der übrigen Schweiz grosse Beachtung fanden. Mit der Gründung einer eigenen, mehrsprachigen Universität suchte man den kulturellen und wissenschaftlichen Austausch mit dem Norden und vor allem wieder mit Italien. Die Uni sollte Symbol für die Weltoffenheit der Tessiner Bevölkerung sein.top

Drei Gründe

Rossano Bervini, der von 1983 bis 1991 für die SP im Staatsrat sass, verweist denn auch auf diese Leistungen und auf den Labor-Charakter des Tessins, wenn er sagt: «Das Tessin braucht keinen Vertreter im Bundesrat. Aber die übrige, die politische Schweiz hat einen Tessiner oder eine Tessinerin in der Landesregierung nötig.» Eine etwas überhebliche, wenn auch nicht abwegige Haltung. Drei Gründe machen das Tessin für die Restschweiz so attraktiv.

Erster Grund: Das Tessin ist eine Region, die für politische Experimente bereit ist und solche in der Vergangenheit auch immer wieder durchgeführt hat. Gelingt ein Versuch in diesem von Gegensätzen geprägten und oft zerstrittenen Kanton, dann ist er schweiztauglich. Ein Tessiner Bundesrat – gleich welcher politischen Couleur – brächte diese Experimentiererfahrung zum Nutzen des ganzen Landes in die Regierung ein. Vor allem eine Bundesrätin, denn Frauen haben es in der Tessiner Politik besonders schwer.

Zweiter Grund: Die italienische Kultur ist keine Minderheit, sondern hat die europäische Zivilisation geprägt – und bietet weit mehr als nur Spaghetti und Chianti. Dass diese Kultur ein stärkeres Gewicht nördlich des Gotthards bekommen muss, ist weniger ein Entgegenkommen an das Tessin als vielmehr eine Notwendigkeit für die Schweiz im Herzen Europas und als Nachbar Italiens, dessen längste Grenze diejenige mit der Schweiz ist. Die Schweiz kann nur dann die Auszeichnung einer multikulturellen Gemeinschaft für sich beanspruchen, wenn die jeweils fremde Kultur als unverzichtbarer Teil der eigenen empfunden wird. Eine solche Haltung ist das glatte Gegenteil der heute praktizierten faktischen Separation der Sprach- und Kulturregionen, bei der man sich gegenseitig weitgehend in Ruhe lässt und die in der Einführung des Englischen als Verständigungssprache beredten Ausdruck findet. Vor allem darf die Vertretung der italienischen Kultur in der Schweiz nicht einfach der Romandie als Statthalter unter dem Kürzel «lateinische Kultur» übertragen werden.

Bei dem für die Zukunft unseres Landes unverzichtbaren Schritt in Richtung Durchmischung der Kulturen kann das Tessin wichtige eigene Erfahrungen einbringen. 25 Prozent der Tessiner Bevölkerung haben keinen roten Pass, dazu kommen die vielen Grenzgänger, die mit den bilateralen EU-Verträgen nicht mehr jeden Tag nach Hause müssen. Nicht zu vergessen die Deutschschweizer im Tessin, die zusätzlich integriert werden müssen. Der Kanton ist mit seiner Integrationspolitik recht vielversprechend.top

Dritter Grund: Das Tessin ist der Vorhof, oder wenn man will die Rutschbahn in die Lombardei. Die Poebene mit ihrem Zentrum Mailand gilt als die Wachstumsregion in Europa. Hier macht man gute Geschäfte, wenn man die Mentalität und die Sprache der Norditaliener versteht. Rossano Bervini sagt denn auch ganz klar: «Die wirtschaftliche Zukunft der Schweiz liegt nicht in Freiburg im Breisgau oder in Stuttgart sondern in Mailand und in den Industriezentren der Poebene.» Seine Aussage wird durch den «International Benchmark Report 2000» der BAK Konjunkturforschung Basel gestützt: Im inneralpinen Vergleich verfügt die Lombardei über die besten Standortqualitäten (also das höchste BIP pro Einwohner) – gefolgt vom übrigen Norditalien. Die Schweiz liegt nur auf dem fünften Rang.

Träume über Nacht zerstört

Das Tessin selber hat lange gebraucht, bis es die wirtschaftliche Chance erkannte, die die Nähe des Wachstumsmotors Mailand bietet. Ein Umdenken bewirkte vor allem die Krise der 90er Jahre. Zwar gibt es immer noch Nostalgiker, die den schönen Zeiten nachtrauern als sich das halbe Tessin über die italienischen Benzintouristen in den Grenzregionen finanzierte. In dieselbe Kategorie gehören die Enthusiasten, die glauben, möglichst viele Spielcasinos entlang der Grenze oder ein Finanzplatz in Lugano mit einem undurchdringlichen Bankgeheimnis lösten die selbstverschuldeten wirtschaftlichen Probleme des Tessins. Die Steueramnestien des italienischen Finanzministers Giulio Tremonti zerstörten solche Träume über Nacht. Die Äusserung von Bundesratskandidatin Patrizia Pesenti im Tessiner Fernsehen, Berlusconi und Tremonti seien unsympathische Politiker, ist daher verständlich – wenn auch nicht sehr klug.

Einen anderen Wirtschaftszweig hat das Tessin in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt: den Tourismus. In der soeben zu Ende gegangenen Saison sind die Übernachtungszahlen regelrecht eingebrochen. Die Sperrung des Gotthardtunnels und die unsäglichen Staus nach seiner Wiedereröffnung dürften eine Rolle, wenn auch nicht die entscheidende gespielt haben. Wichtiger ist die Tatsache, dass in den letzten Jahren die Investitionen vernachlässigt und man sich allein auf den Mythos der Sonnenstube mit Risotto und Boccalino im Grotto verlassen hat. Fehlende Innovation und Investition, die sich jetzt rächen.top

Das Tessin: eine urbane Region

Die Mehrheit im Tessin hat freilich erkannt, dass sich das Tessin längst zu einer urbanen Region entwickelt hat. Der Talboden von Bellinzona bis Locarno und von Lugano bis Chiasso ist weitgehend überbaut und zusammengewachsen. Das Zentrum verlagert sich immer weiter nach Süden. Mit der geplanten neuen Eisenbahnverbindung von Mendrisio nach Varese und Gallarate mit Anbindung an die Simplonroute wird der Hauptort des Mendrisiottos zu einem neuen wichtigen Knotenpunkt im Nord-Süd-Verkehr. Gleichzeitig wachsen im Süden die Agglomerationen Varese und Como zusammen, so dass sich im Dreieck Lugano, Varese, Como ein neues starkes Wirtschaftszentrum mit über 600'000 Einwohnern, rund 300'000 Arbeitsplätzen und mit grossem Entwicklungspotential bildet. Um diesseits und jenseits der Grenze von dieser Entwicklung zu profitieren, ist die grenzüberschreitende Arbeitsgemeinschaft «Regio insubrica» entstanden.

Es liegt auf der Hand, dass die Lombardei mit den Nachbarregionen und ihren rund zehn Millionen Einwohnern eine wirtschaftliche Herausforderung für die ganze Schweiz darstellt. Das Tessin mit seiner ebenfalls lombardischen Bevölkerung kann hier eine wichtige Brückenfunktion wahrnehmen. Eine Vertretung im Bundesrat schadet dabei gewiss nicht.

Impulse für die wenig innovative Landesregierung

Politisches Labor, italienische Kultur und wirtschaftliche Chance: drei Gründe, weshalb die Deutschschweiz, aber auch die Romandie, das Tessin brauchen. Stellt sich die Frage, ob die Tessiner Bundesratskandidatin, die Sozialdemokratin Patrizia Pesenti, dafür die richtige Person ist. Zumindest bringt sie als personifizierte Integration gute Voraussetzungen dafür mit: Sie spricht perfekt deutsch (sogar Dialekt), französisch und englisch, stammt aus einer Einwandererfamilie aus Bergamo und ist seit ihrer Kindheit mit der Deutschschweizer Mentalität vertraut. Vor allem aber kennt sie das «Labor» Tessin und könnte dessen Versuchsergebnisse als Impuls in die wenig innovative Landsregierung einbringen.

November 2002

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